Eintrag 18: Woche 21 (Von Sehnsucht und einem goldenen Kopf)
Liebe Alle
Wort der Woche: le mal de cœur - der Herzschmerz - “Und manchmal schmerzt mein Herz, wenn ich an euch denke.”
Am Montag startete mein Praktikum auf der Gynäkologie. Ich freute mich sehr darauf. Im Moment ist es das Fach, das mich am meisten interessiert, also hoffte ich umso mehr, dass es mir gefallen würde. Ich wurde für drei Wochen in die Geburtshilfe eingeteilt. Das bedeutet drei Wochen schwangere Frauen, Ultraschalls von Babys und Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen. Ich war schon überrascht, wie viel Zeit an Vorsorgeuntersuchungen ein Kind schon vor der Geburt in Anspruch nimmt. In der ersten Woche durfte ich bei den Sprechstunden dabei sein. Ich war jeden Tag bei einer anderen Ärztin oder einem anderen Arzt. Die Untersuchungen waren zwar mehr oder weniger das gleiche, aber es war spannend zu sehen, wie alle Ärzte unterschiedlich arbeiteten und auch unterschiedlich mit den Patientinnen interagierten. Auch in Lyon ist die Digitalisierung angekommen, was bedeutet, dass alle Krankenakten im System gespeichert werden, damit man von überall Zugriff dazu hat. Eine praktische Erfindung könnte man meinen. Der Arzt, bei dem ich am Donnerstag war, sah das etwas anders. Er nervte sich so sehr über die digitalen Akten, dass er es bei jeder Patientin noch einmal angesprochen hat und sich von seinem eigenen Geld (das Krankenhaus wollte nicht mehr zahlen) Krankenakten aus Papier für die Patientinnen kaufte. Ich verstehe, dass er sich doppelt absichern wollte, aber so schlecht ist die Digitalisierung auch nicht. Und die meisten Patientinnen haben immer noch eine Papierakte, so schnell würde sich das wahrscheinlich nicht ändern. Ein anderer grosser Unterschied zu seinen weiblichen Kolleginnen war jedoch, dass er vor ein paar Jahren angefangen hat, jede Patientin vor der ersten Untersuchung einen Fragebogen ausfüllen zu lassen. Einen Fragebogen über Zustimmung. Er holte sich von jeder der Patientinnen die schriftliche Zustimmung, dass er sie untersuchen durfte. Und jede Untersuchung war einzeln aufgelistet und zu jeder Untersuchung musste sie ihr Einverständnis geben. Er hatte einen ganzen Ordner nur mit diesen Fragebögen, damit er sie, wenn nötig vorweisen konnte. Ich konnte verstehen, woher seine Motivation kam, abgesichert sein zu wollen. Dennoch finde ich es sehr traurig, dass wir in einer Welt leben, in der schon so viel schiefgelaufen ist, dass solche Massnahmen nötig sind. Und dass das den Ärztinnen vermutlich nie in den Sinn kommen würde. Natürlich fragen alle vor der Untersuchung nach der Zustimmung der Patientin, aber nicht mit Unterschrift. Das ist schon ein Unterschied. Ich durfte bei der Untersuchung helfen. Ein Teil davon war es die Herztöne des Babys zu überwachen, dazu musste man mit einem Doppler das Herz des Babys suchen und wenn man am richtigen Ort war, würde man die Herzschläge des Babys hören. Das war ein Erfolgserlebnis, als ich das erste Mal das Herz selbst gefunden hatte. Es war auch immer schön, wenn die Väter auch dabei waren. Zu sehen, dass es Väter gibt, die komplett involviert sind in die Schwangerschaft und die Geburt, das war toll. Zu sehen, wie sehr sich manche Paare auf ihr Kind freuten und wie viel Liebe im Raum war. Das hat mich etwas sehnsüchtig gemacht. Nach einer Woche Ultraschall erkenne ich langsam endlich ein bisschen etwas. Ich weiss, was wo ist und wie es aussehen muss. Aber keine Ahnung wie ich es allein finden würde. Ich finde es immer noch sehr spannend und freue mich auf die nächsten zwei Wochen. Was mir diese Woche aber auch aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass mein Französisch nicht mehr so rund läuft wie auch schon. Ich habe das Gefühl ich habe in den drei Wochen Ferien alles wieder vergessen. Ich verstehe zwar noch einiges, aber sprechen kann ich gefühlt gar nicht mehr. Ich mache so viele Fehler (die habe ich vermutlich vorher schon gemacht) und ich vergesse so viele Wörter. Ich fühle mich wieder so unsicher, wie in der ersten Woche, nur bin ich jetzt schon seit fast fünf Monaten hier. Ich hätte nicht gedacht, dass drei Wochen Pause so viel ausmachen würden. Und da ich mehrheitlich zuhöre und nicht spreche, wird sich das vermutlich so schnell auch nicht wieder ändern. Ich hoffe echt, das wird noch besser.
Am Montagabend war ich mit meinen beiden “Besties” Abendessen. Dienstagabend war noch einmal Abendessen angesagt und am Mittwochabend war ich zu Hause. Ich war etwas müde, weil ich nach drei Wochen Ferien wieder früh aufstehen musste. Ich weiss ich sollte mich nicht beklagen aber dennoch muss ich mich wieder an den Rhythmus gewöhnen. Am Donnerstag war endlich wieder Yoga. Ich muss mich echt öfters bewegen. Und natürlich – Donnerstagabend – Tortilla-Night! Einer der Spanier hatte Geburtstag und hat daher schon um 19:00 zum Abendessen eingeladen. Natürlich kamen die ersten Gäste erst um 20:00, dafür wurde das Essen schon um 20:30 statt erst um 21:30 aufgetischt. Ich habe wie immer meine Tasse mitgenommen, weil ihre Küche definitiv nicht für zwanzig Gäste ausgestattet ist. Kein Problem, ich war vorbereitet. Ich trank also vornehm aus meiner weissen IKEA-Tasse, während die anderen aus ihren Pappbechern tranken. Zum Glück hatte ich meine Tasse dabei, ansonsten hätte ich aus der Flasche trinken müssen. Weniger vornehm. Es war super alle wieder auf einem Haufen zu sehen. Wir redeten über die Weihnachtsferien und Silvester. Wir beschlossen, dass es endlich Zeit war, dass ich auch einmal mit in den Club gehen würde. Bis jetzt bin ich immer davongekommen. Ich konnte es aber um zwei Wochen herausschieben. Am 2. Februar ist es so weit. Immerhin konnte ich aushandeln, dass wir an einem Freitag gehen. Dann kann ich mich wenigstens zwei ganze Tage davon erholen. Wir haben uns geschworen, dass wir gehen werden. Mal schauen, wer sich alles daran erinnert in zwei Wochen. Einer der Spanier hat mir erzählt, dass er in Genf Schweizer Schokolade gekauft hat. Die Orange mit den Luftblasen meinte er. Auch bekannt als “Ovo-Schoko”. Zwanzig Minuten später hielt er mir die zwei letzten Stücke der Tafel hin und wollte sie mit mir teilen. Er meinte, ein Stückchen “Heimat” für mich. Leider hatte ich schon zwei Stück Kuchen gegessen. Und konnte kein einziges Bisschen mehr in meinen Magen stopfen. Ausserdem wollte ich ihm nicht sein letztes Stückchen Schweizer Schokolade wegessen. Ich lehnte dankend ab. War dennoch sehr freundlich von ihm.
So langsam wird es für die Studenten, die nur für ein Semester hier sind Zeit sich zu verabschieden. Ich muss sagen, ich bin schon etwas froh, muss ich noch nicht gehen. Ich freue mich noch ein bisschen hier sein zu können. Es ist schon traurig, dass die ersten wieder nach Hause fahren. Die Zeit vergeht so schnell. Im Moment sind sie aber noch hier, also gingen wir am Freitagabend, wie schon so oft, etwas trinken. Ich verstehe diese Menschen manchmal nicht. Es ist Januar, eiskalt und es sitzen trotzdem alle draussen und trinken ihr Bier. Keine Ahnung wie man das geniessen kann. Ich wäre nach zwei Minuten eingefroren. Da würde mir auch der Alkohol nicht weiterhelfen. Einerseits wirken die Strassen in den kalten Nächten so etwas freundlicher, andererseits wäre es mir definitiv zu kalt, draussen zu sitzen. Also eigentlich gut für mich, so sind trotzdem Leute draussen und es hat mehr freie Plätze drinnen für meine Freunde und mich. Am Wochenende war endlich die Sonne wieder einmal draussen. Dennoch bin ich am Samstag aufgewacht, mit einer Sehnsucht in meinem Herzen, es war kaum auszuhalten. Ich habe mich komplett erschlagen gefühlt. Ich habe euch alle vermisst. Manchmal wünschte ich, ich könnte mich einfach umdrehen und euch umarmen. Dich umarmen. Aber leider ist das nicht immer möglich. Zum Glück kann man heutzutage die Menschen über Video-Anruf erreichen. Einerseits ein Segen. Andererseits macht es die Situation manchmal fast noch schlimmer, weil man sich sehen, aber nicht anfassen kann. Dann vermisst man sich noch mehr. Zum Glück kann ich euch so regelmässig besuchen. Dann zähle ich die Tage, wie ein Kind an Weihnachten. Ach, was sag ich da. Ich zähle die Tage, wie ich an Weihnachten. Ich weiss ich sollte meine Zeit hier auch geniessen. Aber manchmal fehlt ihr mir sehr. Eigentlich immer. Manchmal ist es einfach etwas weniger schlimm und manchmal etwas mehr schlimm. An diesem Tag war es etwas mehr schlimm. Aber ich weiss, dass es auch wieder etwas weniger schlimm wird. Und dann freue ich mich wieder darüber, dass ich im Moment in einem anderen Land leben darf. Und ich freue mich auf die Erlebnisse, die ich hier mache und auf die Menschen, die ich kennenlernen konnte und die meine kleine Zweitfamilie wurden. Was ich alles gelernt habe und wie sehr ich schon gewachsen bin (mental nicht physisch - ich glaube der Zug ist abgefahren). All das wäre nie passiert, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Und ich glaube, ich hätte es auch bereut, wäre ich nicht gegangen. Deswegen versuche ich mir das immer wieder vorzustellen, wenn ich wieder Zweifel habe. Ich werde noch eine Weile hier sein. Und es ist fast immer toll hier zu sein. Ich kann diese Zeit hier geniessen und wenn sie vorbei ist, kann ich wieder nach Hause kommen. Und es wird sich gelohnt haben. Jede Minute davon. Als ich mich also am Samstagmorgen endlich aus dem Bett geschält habe, es war wieder einmal Zeit auf den Markt zu gehen, habe ich mich über die Sonnenstrahlen gefreut. Ich versuchte mich von meinem Herzschmerz abzulenken und genoss das schöne Wetter mit Spaziergängen im Park und natürlich Kaffee trinken. Jeder Tag ist ein guter Tag, um Kaffee zu trinken mit Freunden. Ich sag’s euch. Am Sonntag war ich zum ersten Mal im “Parc de la Tête d’Or”. Der Park des goldenen Kopfes. Schöner Name. Das ist anscheinend einer der grössten Parks in Europa. Sozusagen der “Central Park” von Lyon. Mit einem Sportstadium, einem Teich, einer Insel, einer Lokomotive, einem Tierpark, einem Jahrmarkt und und und. Ein Riesenpark ich sag’s euch. Ich weiss auch nicht, wieso ich so lange brauchte, um mal dahinzugehen. Im Sommer ist es sicher noch viel schöner. Ich freue mich.
Ah und nebenbei erwähnt. Am Freitag bekamen wir endlich Bescheid über unsere Prüfungsergebnisse. Ich war im Praktikum, deswegen konnte ich nicht sofort nachschauen, aber da alle ein Dokument mit allen Ergebnissen von allen Studierenden bekommen, konnten meine Freundinnen mich updaten. Datenschutz wird in Frankreich, jedenfalls was die Noten betrifft, eher kleingeschrieben. Das war mir in dem Moment aber egal, weil ich so nicht mehr auf die Ergebnisse warten musste. Ich habe alles bestanden. Ich war schon etwas erleichtert. Die erste Hürde ist geschafft. Jetzt habe ich noch die Prüfungen im Mai vor mir. Aber jetzt weiss ich wenigstens, dass es machbar ist. Top.
Alles Liebe
-Kayley