Eintrag 19: Woche 22 (Abschied nehmen)
Liebe Alle
Wort der Woche: la vie - das Leben - “Geniesst euer Leben.”
Woche zwei auf der Gynäkologie. Diese Woche war ich auf dem Notfall. Klingt spannender als es war. Ich war um 8:30 da, damit ich sicher rechtzeitig sein würde, lief zum Notfall und wartete erst einmal eine Stunde auf die Assistenzärztin. Wenn es etwas gibt, dass ich hier lerne, ist es zu warten. Irgendwann habe ich gecheckt, dass die erste Patientin erst um 9:15 ankommen würde also habe ich mich an die Hebamme gehängt, welche mich auch freundlicherweise mitgenommen hatte. So hatte ich wenigstens etwas zu tun. Als die Assistenzärztin ankam, musste sie zuerst eine Stunde lang die Patientenakten lesen. Ich sass hinter ihr auf dem Stuhl und habe versucht, mich in meinen Gedanken selbst zu unterhalten. Da ich nie wusste, wo sie genau hinlief, ich aber auch nicht verpassen wollte, wenn sie zu den Patientinnen ging, lief ich ihr den ganzen Tag hinterher. Überallhin. Ich war ihr personifizierter Schatten. Ich lief (meistens eher rannte) ihr hinterher. Zu den Patientinnen. Zum Essen aufwärmen. Zur Toilette. Unangenehm. Aber auch bei den Untersuchungen war es unangenehm. Wenn man bei Untersuchungen dabei ist und überhaupt nicht weiss, wie sie ablaufen und nicht einfach im Weg herumstehen will aber eigentlich genau das macht und dann versucht, die Schritte der Assistenzärztinnen vorherzusagen aber natürlich keine Chance hat, weil man nicht weiss, was sie vorhat und dann immer so unelegant hin und her tanzt in der Hoffnung niemandem auf die Füsse zu treten und nicht ganz unfähig dazustehen. Das ist so unangenehm. Man will gerne helfen und hat Angst etwas falsch zu machen, aber wenn man dann gar nichts macht, wirkt man uninteressiert und wenn man sich dann mal traut etwas zu machen, ist es meistens das falsche. Oder man macht genau das, was sie in den zehn vorherigen Untersuchungen gemacht haben, aber genau bei dieser einen Untersuchung braucht es das nicht. Also gibt man sich irgendwann geschlagen und schaut einfach nur zu und versucht möglichst nicht auszusehen, als würde man gleich einschlafen und hofft, die Fragen zu erkennen, die an einen gerichtet sind, was gar nicht so einfach ist, weil ungefähr einmal pro Stunde jemand mit einem direkt redet. Und die anderen Male ist man, wenn sich zwei Menschen unterhalten, ihr wisst es schon, ein Schatten. Ich habe den ganzen Tag mit zuschauen verbracht. Zehn Stunden. Zuschauen. Am Anfang denkt man sich noch, man schaut ganz genau zu damit man ja nichts verpasst. Man merkt sich alles, was sie sagen, was sie anordnen, wie die Werte sind. Nach ein paar Stunden hofft man einfach, dass man nichts mehr gefragt wird und nach Hause darf. Das Highlight war die halbe Stunde Mittagspause, die ich allein verbrachte. Ein gelungener Tag. Ich habe echt die Minuten gezählt. Und sie verstrichen. Und ich musste bleiben. Um 18:00 Uhr wurde die Station geschlossen, das bedeutet wir mussten die letzte Patientin noch auf eine andere Station begleiten. Mittlerweile waren es schon zwei Assistenzärztinnen. Aber zum Glück war ich auch noch dabei, ich war eine grosse Unterstützung. Hauptsache, ich lief ihnen auch noch hinterher. Während der Übergabe gönnten sich die beiden ein kleines Abendessen und liessen sich daher auch reichlich Zeit, um die Patientinnen vorzustellen. Ich durfte auch dabei zusehen. Mein Magen knurrte und ich wollte nur noch nach Hause. Nach einer halben Stunde Kaffeekränzchen durfte ich dann endlich gehen. Ich war komplett erschöpft. Vom Nichtstun den ganzen Tag. Das ist viel schlimmer, als wenn man zu viel zu tun hat. Ich hasse es, wenn ich mich so nutzlos fühle. Ausserdem habe ich das Gefühl mein Gehirn stirbt ab, wenn ich es so lange nicht brauche. Ich sitze einfach da und lasse mich berieseln. Und irgendwann kann ich mich so schlecht konzentrieren, dass ich gar nicht mehr richtig verstehe, was sie da reden. Und irgendwann kann ich nicht einmal mehr zuhören und sitze einfach da, denke an irgendetwas, um nicht einzuschlafen und versuche nach aussen wenigstens ein bisschen so auszusehen, als wäre ich noch anwesend. Obwohl ich in meinem Kopf schon lange abgemeldet bin. Ich musste mich echt zusammenreissen, um nicht alle fünf Minuten zu gähnen. Unangenehm. Ich wollte echt nicht so gelangweilt wirken, aber es war leider genau das. Langweilig. Weil dieser Tag so unglaublich lehrreich war, habe ich für mich selbst entschieden, dass ich am nächsten Morgen eine Stunde später anfangen durfte. Ich fand das war vertretbar. Ich kam also am nächsten Morgen eine Stunde später an und es hat niemanden interessiert. Top. Es hat auch Vorteile ein Schatten zu sein. Dieses Mal war eine andere Assistenzärztin auf dem Notfall. Und es war um einiges besser. Ich habe mehr als zwei Worte gesagt. Und ich durfte um 13:30 nach Hause gehen. Ein Erfolg auf ganzer Linie. Selbst für einen Schatten. Am Abend waren wir wieder einmal zum Kino verabredet. “Poor Things”. Dieser Film war wieder einmal eine Erfahrung. Ich muss sagen, er hat mich fasziniert. Man wurde immer wieder von neuen Plot Twists überrascht und die Bilder waren unglaublich. Dennoch war es ein sehr wilder Film. Als wir aus dem Kino kamen, wussten wir alle nicht ganz genau, was wir gerade gesehen hatten. Als ich zuhause ankam, googelte ich als erstes, was uns dieser Film genau sagen wollte. Der Mittwoch war wie der Dienstag nur mit einer anderen Assistenzärztin und ohne Kino am Abend. Und immer noch besser als Montag.
Am Donnerstag fuhr ich wieder einmal nach Hause. Ich glaube diese Zugfahrten werde ich vermissen. Ich fuhr nach Hause, um am Freitag bei der Abdankungsfeier dabei sein zu können. Und als ich auf dem Heimweg an die Abdankung dachte und daran, dass Beerdigungen oft mit Gott zu tun haben, überlegte ich mir, dass ich mir manchmal wünschte, ich würde an Gott glauben. Ich weiss nicht warum, aber ich stelle mir das manchmal schön vor. Jemanden zu haben, in den man all sein Vertrauen stecken kann. All seine Sorgen. Seine Gedanken. Zu glauben, dass jemand da ist, der sich um einen kümmert. Der einen Plan hat. Zu glauben, dass alles so kommen wird, wie es kommen muss. Zu glauben, dass, wenn man stirbt, man dann in den Himmel kommt. Zu glauben, dass das Leben nach dem Tod nicht vorbei ist. Es dann erst richtig anfängt. Und dass da jemand auf einen wartet. Ich wünschte, ich könnte. Doch um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass da jemand ist, der sich unser Leben ausgedacht hat. Der für uns einen Plan hat. Was sollte das auch für ein Plan sein? Und dann denke ich, was Menschen im Namen von Gott alles entschuldigen. Wie viel gemeine Dinge passieren, nur weil man ein Buch falsch interpretiert hat. Und wie einfach man sich durch Gott aus der Affäre ziehen kann. An Gott zu glauben, heisst auch Verantwortung abzugeben. Was nicht nur schlecht sein muss. Vielleicht kann man dadurch auch die Erwartungen an sich selbst mindern. Vielleicht geht es auch gar nicht um Gott. Vielleicht geht es darum, zu vertrauen. Eine Sicherheit zu spüren, die man sich selbst nicht geben kann. Eine Geborgenheit aus etwas zu ziehen, dass nicht von einem anderen Menschen abhängig ist. Sein Leben in die Hände von etwas Grösserem legen. Nicht auf sich allein gestellt zu sein. Und zu glauben, dass es nicht vorbei ist, wenn’s vorbei ist. Das Leben ist endlich. Das macht Angst. Der Tod ist nicht fair. Er kommt für die einen früher, für die anderen später. Für die einen mit Leid für die anderen mit Erlösung. Diese Ungerechtigkeit ist einfacher zu ertragen, wenn man sich vorstellt, dass es noch weitergehen wird nach dem Tod. Dass da jemand auf einen wartet. Es gibt einem Frieden. Und es gibt all denen Frieden, die auf der Erde zurückbleiben. Es erleichtert den Abschied. Manchmal denke ich, es wäre schön an Gott glauben zu können. Dann merke ich, dass es nicht Gott ist, an den ich glauben will. Es sind vielmehr die Werte, die ich mit Gott verbinde. Die ich mit dem Glauben verbinde. Es ist die Zuversicht, dass alles gut wird. Das Vertrauen, dass ich meinen Weg finde. Die Verbundenheit, die einen weniger allein sein lässt. Die Kraft, das anzunehmen, was man nicht steuern kann. Die Stärke, selbst Verantwortung zu übernehmen. Frieden. Im Leben und im Tod. Für all das brauche ich keinen Gott. Ich brauche auch niemand der irgendwo auf mich wartet. Ich kann glauben. Aber lieber glaube ich an mich selbst. Dennoch finde ich die Vorstellung immer noch schön, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Und ein Teil von mir glaubt auch daran. Und wenn ich da ankomme, warten all jene auf mich, die schon vor mir angekommen sind. Familie. Freunde. Mit Kaffee und Kuchen. Und guter Musik. Ganz bestimmt nicht Gott. Und wenn doch, wäre ich sehr überrascht.
Die Abdankungsfeier fand im Feuerwehrmagazin statt. Eine schöne Idee, fand ich. Die Fahrzeughalle wurde geschmückt, die Fahrzeuge davor aufgereiht. Es sind viele Menschen gekommen. Es war eine schöne Feier. Es war positiv, es war friedlich und man durfte lachen. Es war schön zu sehen, wie sehr er geliebt wurde. Wir haben seine Lebensgeschichte gehört. Eine Geschichte über seine Leidenschaft, seine Kämpfe und seine unerschütterliche Würde. Eine Geschichte einer Familie, die zusammenhielt. Eine Geschichte über die Stärke von Eltern, die sich noch einmal aufrafften und sich noch einmal verabschiedeten. Ihre Güte und Freundlichkeit durch die Trauer hindurch hat mich gerührt. Es war eine schöne Geschichte. Und ich stelle mir vor, wie sie für ihn irgendwo weitergehen wird. Am Ende der Feier ertönten noch ein letztes Mal die Sirenen. Nach der Feier blieben alle noch eine Weile da, wir assen und tranken, unterhielten uns und lachten zusammen. Ich denke dafür sind diese Feiern da. Um sich zu erinnern. Um das Leben eines geliebten Menschen zu ehren. Um da zu sein. Man trauert nicht, dass jemand gestorben ist, sondern man feiert, dass er gelebt hat. Seine Mutter hat uns etwas mit auf den Weg gegeben, das ich nicht vergessen werde: “Geniesst euer Leben.” Am Abend gingen wir mit ein paar Freunden essen. Es war ein schöner Tag. Ein trauriger Tag. Aber auch ein schöner Tag.
Am Sonntagmorgen wieder nach Lyon zu fahren war nicht einfach. Es fällt mir schwer, zwischen den beiden Orten hin und herzupendeln. Ich fühle mich, als wäre ich nirgendwo richtig zu Hause. Ich bin in der Schweiz und habe da meine Freunde, meine Familie. Ich bin in Lyon und habe da meine Freunde, meine Mitbewohnerinnen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Wiedersehen und Verabschieden. Jedes Mal, wenn ich zuhause bin, will ich die Zeit geniessen aber denke schon an den Moment, an dem ich wieder gehen muss. Immer ein Wechsel aus Vorfreude und Abschiedsschmerz. Sehnsucht und Freiheit. Ich habe keine Ahnung, ob das irgendwie Sinn macht, aber ich habe das Gefühl jedes Mal eine Wunde aufzureissen, wenn ich wieder von zu Hause wegfahre. Und dennoch versuche ich möglichst viel Zeit mit euch zu verbringen, möglichst wenig zu verpassen, möglichst viele von euch zu sehen. Ich versuche immer alle Momente zu geniessen und gleichzeitig fürchte ich, dass die Zeit zu schnell vorbeigeht. Und dann hoffe ich wieder, dass die Zeit zwischen meinen Besuchen so schnell wie möglich vorbei geht und vergesse die Zeit hier zu geniessen. Es ist, als stünde ich unter Strom. Und eigentlich will ich nur atmen. Ich glaube, ich muss versuchen, weniger nach Hause zu kommen. Ich habe noch fünf Monate. Halbzeit. Ich versuche, das Beste draus zu machen. Ich versuche, jeden Moment einzufangen. Ich werde versuchen, mein Leben zu geniessen.
Alles Liebe
-Kayley