Eintrag 27: Woche 32 (Neue Blickwinkel)

Liebe Alle

Wort der Woche: l’aspirateur, m. - der Staubsauger - “Bedankt euch bei eurem Staubsauger.”

Unser Staubsauger ist kaputt. Warum das relevant ist, fragt ihr euch? War euer Staubsauger schon einmal kaputt? Manche Dinge weiss man erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen werde, aber ich vermisse unseren Staubsauger. Ich vermisse die Zeit, in der ich ihn einfach aus dem Schrank holen und staubsaugen konnte. Unsere Wohnung war noch nie so staubig und dreckig wie an diesem Freitag. Ich war zuhause am Lernen und es nervte mich so sehr, ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Alles, was ich sehen konnte, war Dreck. Also nahm ich den Staubsauger aus der Kammer und begann staubzusaugen. Jetzt fragt ihr euch, warum ich den kaputten Staubsauger genommen habe. Die Antwort ist einfach. Ich hatte die Hoffnung er würde es noch einigermassen hinkriegen, wenigstens den leichten Staub aufzusaugen. Denn er lässt sich noch einschalten. Er hat einfach zu wenig Zug drauf. Ich brauchte eine Stunde, um unsere Wohnung zu saugen. Oder besser gesagt, den Staub hin und herzuschieben. Ich habe extra das Rohr kurzgehalten, weil ich dachte, dann muss der Staubsauger nicht ganz so weit saugen. Also lief ich eine Stunde in gebückter Haltung durch die Wohnung und schob Staub hin und her – pflückte die Haare aus dem Besen und stopfte sie in das Rohr, Öffnung nach oben, damit sie, Schwerkraft sei Dank, eingesaugt blieben. Nichts ist frustrierender als vermeintlich Staub zu saugen, nur um dann den Staubsauger zu bewegen und dann zu sehen, dass der Dreck wieder rückwärts aus dem Rohr gerutscht ist, weil die Saugkraft zu schwach war. Die grossen Stücke habe ich, auf allen Vieren kriechend, einzeln vom Boden aufgelesen und in den Abfall verfrachtet. Meine Hände waren effizienter im “Staubsaugen” als der Staubsauger.  Und bei Weitem nicht so laut. Mein einziger Antrieb war meine Wut auf den erbärmlichen Staubsauger und auf meine Vermieterin, die uns keinen Neuen kaufen will – weil – er sich noch einschalten lässt, wenn man ihn einsteckt. Aber nur weil er läuft, heisst es nicht, dass er saugt. Jetzt fragt ihr euch bestimmt, warum wir nicht einfach einen neuen kaufen. Gute Frage, anscheinend ist das Sache der Vermietenden. Habe ich jedenfalls so verstanden. Danach hatte ich jedenfalls genug Energie, um die restliche Wohnung zu putzen, weil ich so frustriert war. Ihr könnt euch vorstellen, dass diese Woche nicht viel anderes passiert ist, wenn ich so lange über unseren Staubsauger schreibe. Gern geschehen. Das nächste Mal, wenn ihr euren Staubsauger rausholt und er für euch den Staub beseitigt – mit der Bedingung, dass er es wirklich tut - haltet inne, klopft ihm auf den Rücken und bedankt euch bei ihm für seine Arbeit. Ich habe es nicht getan und ihr seht, wohin es mich geführt hat. Er hat mich im Stich gelassen und ich muss nun den Boden mit meinen Händen putzen. Wenn ich jemals wieder einen funktionierenden Staubsauger besitzen werde, dann werde ich ihn besser behandeln. Und danke sagen. Ich verspreche es.

Am Wochenende waren mein Bruder, seine Freundin und mein Freund auf Besuch. Es war unglaublich schönes Wetter am Samstag – Lyon hat sich von ihrer besten Seite gezeigt. Nur etwas übermotiviert mit dem Wind. Das wäre nicht nötig gewesen. Ansonsten – 1a. Wir haben am Samstagmorgen eine Stadttour durch die Altstadt gemacht. War sehr spannend. Die hätte ich am Anfang machen sollen, ich habe so viel gelernt. In der Altstadt von Lyon gibt es über 600 Gänge, die als “Shortcuts” zur Rhône dienen. Da die Strassen alle parallel zum Fluss verlaufen, wurden kleinere Wege zwischen den Häusern gezogen. Als sie die Häuser neu bauten, wurden die Wege belassen und die Gebäude einfach darum herum gebaut, damit die “Traboules” bestehen blieben. “Traboule” – aus dem lateinischen “transambulare”,  was so viel wie “durchqueren” bedeutet. Ich wusste schon, dass es diese “Traboules” gibt, aber nie, wo sie zu finden sind. Jetzt weiss ich es endlich. Ich habe ebenfalls gelernt, das Seidenwürmer, eigentlich keine Würmer sind, sondern Raupen und deren Motten mittlerweile so überzüchtet sind, dass sie nicht mehr fliegen können (weil sie zu fett sind). Und dass es sie ohne die Menschen nicht mehr geben würde, weil sie zu faul sind (oder zu unfähig), sich fortzupflanzen. Ich könnte noch ganz viele Geschichten erzählen, zum Beispiel, dass einer der schlimmsten NS-Kriegsverbrecher der Geschichte, Klaus Barbie, in Lyon im “Palais de Justice” verurteilt wurde. Ich habe Lyon noch einmal von einer anderen Seite kennengelernt und innerhalb von zwei Stunden mehr über diese Stadt erfahren, als in den ganzen Monaten zuvor. Ich bin schon lange hier, aber ich glaube so aufmerksam bin ich noch nie durch die Strassen gelaufen. Das Wochenende war sehr entspannt und ich habe mich gefreut meinem Besuch die Stadt zu zeigen. Es ist schön Familie da zu haben. Natürlich haben wir auch sehr gut gegessen – sogar mit Gluten und Kuhmilch zur Abwechslung – mein vierwöchiges Experiment ist offiziell vorbei. Die “Praluline” (eine Brioche mit “Pralines” aka rosaroten, zuckerüberzogenen Mandeln) durfte auch nicht fehlen. Wenn ihr jemals in Lyon seid – probiert sie. Sie ist ultrasüss – aber auch sehr lecker. Aber kauft sie bei “Pralus” (“Pralus” + “Praline” = “Praluline”), vertraut mir. Wenn ihr euch jemals fragt, warum alle mit diesen farbigen Tüten rumlaufen – da drin sind “Pralulines” von “Pralus”. Die Legende besagt, ihm wären eines Tages beim “Brioche” Backen “Pralines” in den Teig gefallen und weil er ihn nicht verschwenden wollte, hat er ihn trotzdem gebacken. Voila! Die Geburtstunde der “Pralulines”. Am Samstagabend waren wir im “Hipsterviertel” von Lyon, “Croix-Rousse”, in einem veganen Restaurant. Das Einzige, was nicht vegan war, war der Käse zum Dessert. (Nicht, dass wir den gegessen haben – schliesslich gab es noch Schokoladenkuchen und karamellisierte Äpfel zur Auswahl…). Ich muss sagen, dieses Wochenende habe ich hervorragend gegessen (wobei die Desserts, da waren wir uns einig, bei weitem das Highlight waren) und - noch viel wichtiger - ich war in hervorragender Gesellschaft. Ein Wochenende wie aus dem Bilderbuch.

Die darauffolgende Woche war ich wieder im Lernmodus. Ich hatte noch drei Wochen bis zum Praktikum – also noch drei Wochen, um mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Langsam wurde es ernst. Und während ich so am Lernen war, verbrachte ich auch viel Zeit allein. Meistens geniesse ich es allein zu sein. Ab und zu macht es mich einsam. Vor ein paar Wochen habe ich die Einsamkeit sehr geschätzt, aber auf Dauer macht sie keinen Spass. Zum Glück habe ich immer mal wieder Besuch. Das geniesse ich sehr. Aber der Besuch geht auch wieder nach Hause. Und ich bleibe hier zurück. Diese Woche hatte ich Angst, den Anschluss in Lyon zu verlieren. Ich vermisste Menschen. Ich hatte das Gefühl, mir fällt die Decke auf den Kopf. Natürlich stimmte das nicht. An manchen Tagen ist es einfach nicht leicht, nach draussen zu gehen, wenn man nirgendwo sein muss. Ich muss nirgendwo sein. Und meine Motivation merkt das auch. Dann nimmt sie sich gerne einige Tage frei. An diesen Tagen fange ich an zu überlegen. Zu denken. Zu überdenken. Und an diesen Tagen bin ich stolz, wenn ich es nach draussen schaffe. Zum Beispiel für die Yogastunde. Es war die Letzte für dieses Semester. Ich werde das Yoga vermissen. Wir starteten mit einer Meditation. Einer Meditation für das Herz. Und ich muss sagen, das Timing hätte nicht besser sein können. Sie war eine kleine Erinnerung, das Licht reinzulassen. (An diesem Punkt waren wir schon einmal, wenn ihr euch erinnern könnt): Schliesse die Augen. Stelle dir vor, eine kleine leuchtende Kugel bewegt sich auf deine Brust zu – direkt zu deinem Herzen. Sie schwebt in dich hinein – und von deiner Brust – deinem Herzen - ausgehend, öffnet sich die Kugel und das Licht breitet sich aus. In dein Arme, deine Beine, deinen Kopf, deinen linken kleinen Zeh – deinen rechten kleinen Zeh. Dein ganzer Körper wird in Licht getaucht. Und während sich das Licht ausbreitet, werden die dunklen Gedanken, die Ängste, die Sorgen, wie eine Staubwolke über deinen Rücken aus deinem Körper rausgeweht, um dem Licht Platz zu machen. Es bedeutet nicht, dass du nur Licht in dir tragen und die Dunkelheit einfach vertreiben kannst. Es bedeutet, dass du versuchen kannst, dem Licht Raum zu geben. Es reinzulassen. Und je mehr Raum du dem Licht gibst, desto weniger bleibt für die Dunkelheit übrig. Einfache Mathematik. Und genauso wie du das Licht empfangen kannst, kannst du die Dunkelheit auch loslassen. Und wenn es mal wieder ein klein bisschen zu dunkel wird, halte inne und mache wieder etwas mehr Platz für das Licht, das nur darauf wartet, reingelassen zu werden. Wenn meditieren nicht so dein Ding ist, gibt es sicher noch andere Wege, das Licht reinzulassen. Bewegung. Sonne. Ein Spaziergang an der frischen Luft. Liebe. Freunde. Ich werde diese Woche versuchen meine sozialen Kontakte wieder etwas zu mobilisieren. Wieder etwas mehr Platz zu schaffen. Ohne Freunde ist es einsam. Man wird einsam. Und je länger man allein ist, je mehr man sich ans Alleinsein gewöhnt, desto schwieriger wird es, sich wieder mit Menschen zu treffen. Darum höchste Zeit, mich wieder unters Volk zu mischen. Also Augen wieder auf, Schuhe an und los geht’s.

Alles Liebe 

-Kayley

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