Eintrag 13: Woche 11 (Praktikum und Dornröschen-Apokalypse)

Liebe Alle

Wort der Woche: la Belle au bois dormant - Dornröschen - “Spoiler: In dieser Geschichte wacht Dornröschen nicht mehr auf.”

Am Montag hatte ich schon etwas mit Heimweh zu kämpfen. Am liebsten wäre ich am Sonntagabend mit zurück in die Schweiz gefahren, statt nach Lyon. Es fiel mir unglaublich schwer, wieder anzukommen. Ich wäre gerne einfach nach Hause gegangen. Aber ich wohne nunmal, zumindest auf Zeit, in Frankreich. Das ist auch meistens echt toll, aber es gibt Tage, an denen ich nicht hier sein will. Oder - nicht unbedingt nicht hier sein will, aber einfach lieber zu Hause wäre. In meiner gewohnten Umgebung. Ohne Stress. Ohne, mich jeden Tag neu orientieren zu müssen. Ohne mich in französischen Spitälern zurechtfinden zu müssen. Ohne jeden Tag jemand neuem wie ein hilfloses Entlein hinterherzudackeln. Hinterherzuwatscheln. Oder was Enten halt so machen. Schweizerdeutsch sprechen zu können. Nicht den ganzen Tag Französisch zu reden und meistens nur die Hälfte zu verstehen, weil alle entweder zu schnell sprechen oder ich mich nach zwei Stunden nicht mehr richtig konzentrieren kann und mein Gehirn nur noch die Hälfte übersetzen mag. Und wenn man einmal den Faden verloren hat, dann findet man den auch nicht mehr wieder. Ich sag’s euch. Ich beschwere mich nicht. Manchmal bin ich einfach müde. Aber genug davon. Um meine Stimmung etwas anzuheben, dachte ich, ich mische mich mal wieder unters Erasmusvolk. Ich schrieb einer Freundin, was sie so vorhatte am Abend. Sie antwortete, sie trifft sich mit einem Freund bei ihm zu Hause, ob ich nicht auch kommen wollte. Natürlich wollte ich auch gehen, aber der Freund lebte am anderen Ende der Stadt. Und ich war komplett erschöpft und wollte tief in meinem Inneren zu Hause bleiben und mich in mein Bett kuscheln. Aber ich habe mir vorgenommen mich zu resozialisieren, also musste ich wohl oder übel ans andere Ende der Stadt fahren. Es dauerte nur eine halbe Stunde. Das ist kürzer als die Strecke von Seltisberg nach Basel. Aber wenn man sich kürzere Strecken gewohnt ist, wird man faul… “Bon”, ich konnte es auch nicht ändern, da musste ich jetzt durch. Habt ihr gesehen, wie ich unterschwellig ein französisches Wort in meinen Satz eingebaut habe? Ich habe ein neues Level an Austauschstudentin erreicht. Das “Ich benutze manchmal unabsichtlich französische Wörter, weil sie mir auf Deutsch nicht mehr in den Sinn kommen”- Level. Als ich dann am anderen Ende der Stadt angekommen bin habe ich mich sehr gefreut, meine Freunde wieder zu sehen. Es gab sogar noch Abendessen und eine Flasche Wein. Ein sehr entspannter Abend. Wir haben uns gegenseitig von unseren Wochenendausflügen erzählt, um uns wieder “à jour” zu bringen. (nochmal Französisch, um zu zeigen, dass ich jetzt seit fast drei! Monaten in Frankreich lebe). Nach meinem Ausflug ans andere Ende der Stadt ging es mir auf jeden Fall besser. 

Diese Woche war schon meine letzte Woche auf der Allergologie. So langsam hatte ich den Dreh raus. Es fühlte sich gut an, sich hilfreich zu fühlen. Ich habe mich von der Kirsche zur Sahne weiterentwickelt. Toll. Die Studenten haben mich auch mehr integriert und in ihre Gruppe aufgenommen. Am Dienstagmorgen war Visite vom Chefarzt und ich musste zum ersten Mal meine Patientin präsentieren. Das bedeutet, man geht am Morgen zur Patientin, befragt sie zu ihrer Krankengeschichte und zu ihrem Aufenthaltsgrund (Keine Ahnung ob das ein Wort ist), macht eine klinische Untersuchung (hört das Herz ab, die Lungen, schaut sich die Haut an, sucht nach Auffälligkeiten…) und dann versucht man sich das alles einigermassen zu merken und erzählt es einem Arzt oder einer Ärztin, der/die schon viel mehr Ahnung hat als man selbst. Bei der Präsentation hofft man, dass man sich möglichst nicht verhaspelt und dass das, was man sagt auch Sinn ergibt. Im besten Fall. Die Visite auf der Allergologie verlief so, dass alle Studenten (in unserem Fall sechs), alle Assistenzärzte (in unserem Fall drei) und der Chefarzt in einem Zimmer sassen. Plus die Patientin oder der Patient, um die oder den es gerade ging. Die Patienten kamen dann nacheinander an die Reihe und ihnen wurde das Resultat der Allergietests (sie alle waren für Allergietests in der Tagesklinik) mitgeteilt. PUUUHH. Viele Leute in einem kleinen Raum. Die Patienten reagierten alle gleich. Sie blieben alle in der Tür stehen und sagten: “OHHH das sind aber viele Menschen. Sind die alle für mich da?”, und trauten sich nicht einzutreten. “Kommen Sie rein, wir sind viele, aber wir sind freundlich”, versicherte der Chefarzt immer wieder aufs Neue und wir alle sassen da und lächelten unser freundlichstes Lächeln, das nach dem dritten von zwölf Patienten schon langsam eingefroren war, und sagten “Bonjour”. In diesem Setting musste ich also meine Patientin präsentieren. Ich übte meine kleine Rede innerlich gefühlt tausend Mal. Meine Patientin war natürlich die letzte also wurde ich mit jeder Minute nervöser. Nach dem tausend und ersten Durchgang und einer erfolgreichen Hauptprobe in meinem Kopf fühlte ich mich bereit. Und endlich war es so weit. Ich holte meine Patientin in ihrem Zimmer ab und begleitete sie zur Visite. “OHHH so viele Menschen. Sind die alle für mich da?” “Bonjour Madame, wir sind zwar viele aber wir sind freundlich.” - Eingefrorenes Lächeln – “Bonjour!” - Ich war bereit für meinen Auftritt. Ich setzte an und… der Chefarzt las die Akte der Patientin selbst vor. PFFFFF… Die ganze Anspannung in mir verflog wie die Luft aus einem geöffneten Luftballon. Ein klein bisschen enttäuscht war ich schon muss ich ehrlich sagen. In meinem Kopf hat es so gut geklungen. Naja vielleicht beim nächsten Mal.

Am Mittwoch arbeitete ich das erste Mal in der Nachmittagsschicht. Ich dachte ich muss schon um 13:00 da sein also bin ich um 12:15 los. Bei der Metrostation angekommen, kam eine Durchsage: “Die Metro B fährt bis 14:00 nur bis Stade de Gerland.” Ich musste die Metro bis zur Endstation nehmen, also musste ich einen neuen Weg finden, um rechtzeitig zum Krankenhaus zu kommen. Ich habe mir eine neue Route rausgesucht, mit der Metro D und dann zwei Bussen Richtung Krankenhaus. “Das wird ein langer steiniger Weg”, dachte ich mir. Ich stieg also aus der Metro aus und lief zur Bushaltestelle. Und wartete. Und wartete. Und wartete. Der Bus kam nicht. Ich schaute noch mal auf der App nach und habe zum ersten Mal die Meldung richtig gelesen. Oh - die Metro fährt nur bis “Stade de Gerland” ABER ab da fährt ein Ersatzbus zur Endstation. Okay. Das ist viel einfacher als der Weg mit den zwei Bussen, den ich mir rausgesucht habe. Wieder zurück zur Metro. Ich fuhr zurück zur Station, bei der ich umsteigen musste und nahm doch die Metro B. Ich hätte mir den Ausflug zur Bushaltestelle sparen können. Ich atmete ein. Ich atmete aus. Ich war zu spät. Aber kein Problem, vermutlich war ich auf diesem Weg schneller als mit dem Bus. Alles gut. Und wenn ich zehn Minuten zu spät war auch nicht so tragisch. Ich stieg also in die Metro B und fuhr los. Da kam eine neue Durchsage: “Gute Nachrichten, wir können wieder bis zur Endstation durchfahren!” Toll! Ich kam bei der Klinik um 13:15 an und lief ins Büro der Assistenzärzte. Noch niemand da. Ich war die Erste. Die Schicht startete erst um 13:30. Auch gut. Jetzt denken alle ich bin superpünktlich. Aber eigentlich habe ich mir einfach die falsche Zeit aufgeschrieben…

An diesem Nachmittag bekam ich eine neue Chance meine Patientin vorzustellen. Ich war bereit. Und wieder war der Chefarzt höchstpersönlich auf Visite. Diesmal liess er mich vorstellen. Ich habe mich so gefreut. Ich habe mich das erste Mal gefühlt, als würde ich zu den anderen dazugehören. Und ich habe es ganz gut hingekriegt. Kleines Erfolgserlebnis! Als ich an dem Abend nach Hause ging, war ich superglücklich. Jedenfalls bis ich bei der Metrostation angekommen bin. Die Metro ist mir direkt vor der Nase weggefahren. “Kein Problem”, dachte ich. Es kommt alle zwei Minuten die nächste. Die nächste Metro kam, ich stieg ein. Es kam wieder eine Durchsage. “Es tut uns leid, die Metro fährt nicht mehr. Sie wird voraussichtlich um 18:10 weiterfahren.” Es war 17:35. Ich wollte nach einer alternativen Route suchen. Kein Netz. Oh nein. Ich entschied mich in der Metro zu warten und zu hoffen, dass sie wieder weiterfahren würde. Da ich kein Netz hatte, startete ich den einzigen Podcast, den ich runtergeladen hatte und hörte ihn mir zum zweiten Mal an. “Besser als nichts”, dachte ich. Ich fand in meinem Rucksack noch eine Zusammenfassung der Vorlesung über “Magenkrebs”. “Besser als nichts”, dachte ich noch einmal und begann zu lesen. Ich konnte die Wartezeit auch sinnvoll nutzen. Um 17:45 kam die zweite Durchsage: “Tut uns leid, die Metro fährt erst wieder um 19:00.” Okay. Ich stieg aus und lief zum Ersatzbus. Natürlich war ich nicht die Einzige. Ich stieg ein. Neben all den anderen verlorenen Seelen, die nur nach Hause wollten, stand natürlich direkt vor mir der neue  Assistenzarzt meiner Abteilung. Wir hatten beide keine Lust, miteinander zu reden, also stand er zwar vor mir, aber er hat sich schön mit dem Rücken zu mir gedreht, damit ja kein ungewollter Blickkontakt zwischen uns entstand, wodurch wir uns hätten Hallo sagen müssen und dann, noch schlimmer, vielleicht sogar hätten miteinander reden müssen. Das wäre echt eine lange Busfahrt geworden. Zum Glück hat er lieber die Wand angeschaut und ich entschied mich konzentriert auf meine “Magenkrebs”-Zusammenfassung zu starren. Ich habe noch nie so fokussiert gelesen. Die Fahrt dauerte 90 Minuten (oder drei Mal “Magenkrebszusammenfassung-Durchlesen”, mit zwischenzeitlichen Pausen, weil mir während der Fahrt ein bisschen schlecht wurde - ich weiss jetzt dafür alles über “Magenkrebs”). Entschuldigt, dass ich in diesem Teil so oft das Wort "Magenkrebs” wiederhole. Das war das letzte Mal, versprochen. Als ich endlich zu Hause ankam, machte ich mir etwas zu essen und fiel müde ins Bett. Und träumte von Magenkrebs. (Sorry, jetzt höre ich auf). Das ist nicht mal wahr. Könnte es aber sein, so oft wie ich diese “Magen*****”- Zusammenfassung gelesen habe. Am Freitag hatte ich eine Patientin, die sehr freundlich war. Ich habe wieder meinen Standardspruch gebracht: “Guten Tag, ich bin aus der Schweiz. Ich spreche noch nicht soo gut Französisch. Aber wenn wir uns beide Mühe geben, kriegen wir das hin.” Sie hat sich sehr viel Zeit genommen und mir alles genau erklärt. Sie hat mir sogar ein paar französische Sprichwörter beigebracht. Am Abend hatte ich zwei Freundinnen zu mir eingeladen. Wir kochten uns Risotto und kauften uns Snacks für einen entspannten Filmabend. Wir entschieden uns für “Bridget Jones” – ein Klassiker, der immer geht. Das war das erste Mal, dass ich jemanden zu mir eingeladen habe. War auch mal wieder schön, so richtig gemütlich. Ich glaube das wird es jetzt öfters geben.

Am Wochenende wurde mir bewusst, dass in fünf Wochen schon die Prüfungen sind. Da habe ich etwas Panik gekriegt. Fünf Wochen sind keine lange Zeit und ich habe noch so viel zu lernen. In zwei Wochen haben wir zusätzlich noch eine Präsentation in Urologie, die ich noch vorbereiten muss und meine Masterarbeit in der Schweiz geht auch voran. Für die Masterarbeit wollte ich eigentlich meinen Beitrag leisten, aber ich hatte keine Ahnung, was ich machen musste. Ich war komplett verloren. Dazu kam noch, dass ich am Montag mein neues Stage (Praktikum) beginnen werde und dafür auch noch einiges wissen musste. Das war plötzlich alles ein bisschen viel und am Sonntagnachmittag war ich dann maximal gestresst. Ich wusste nicht mehr, wo ich anfangen sollte vor lauter Traktanden auf meiner To-do-Liste. Durch diesen Stress wurde mein Heimweh wieder stärker und ich wünschte mir nichts mehr als einfach in den Zug zu steigen und nach Hause zu fahren. Ich vermisste mein zu Hause sehr. “Bald werde ich nach Hause fahren”, dachte ich mir. Ich bin eine der wenigen, die unter dem Semester nach Hause gehen kann. Wenn nicht sogar die Einzige. Also sollte ich mich glücklich schätzen. Das tue ich auch. Zum Glück hatte ich Karten für ein Ballett am Nachmittag. So hatte ich wenigstens einen Grund, um rauszugehen. Ich traf mich mit zwei Freundinnen bei der Oper und wir suchten unsere Plätze. Wir haben die billigsten Plätze gekauft, was bedeutete, wir belegten die hintersten und letzten Plätze des ganzen Saals. Man hat aber immer noch ganz okay auf die Bühne gesehen. Wir waren gespannt. Dornröschen. Ein Klassiker. Modern interpretiert. Das wussten wir zu Beginn der Show aber noch nicht. Es begann damit, dass ungefähr fünfzehn Tänzerinnen und Tänzer sich auf der Bühne bewegten und laut ausatmeten. Fünfzehn Minuten lang. Dann folgte ein spannender Teil, mit einer optischen Täuschung, bei der das neugeborene Dornröschen wie durch Zauberhand aus den Armen der einen Fee verschwand und in den Armen einer anderen Fee wieder auftauchte. Das war schon ziemlich cool gemacht. Ab da ging alles den Bach runter. Die Musik wurde immer wilder, die Tänzerinnen und Tänzer begannen zu rennen. Zu schreien. Sie begannen, sich auszuziehen und die Kulissen abzureissen. Nach zwanzig Minuten Chaos rannten alle Tänzerinnen und Tänzer kreuz und quer immer leichter bekleidet über die Bühne - bis sie am Ende ungefähr zehn quälend lange Minuten nackt über die Bühne sprinteten. Die waren zum Teil echt schnell. Wir schauten uns alle fragend an. Ich glaube, wir hätten zuerst die Interpretation lesen sollen, weil verstanden haben wir es nicht so ganz. Am Ende erschien das Dornröschen in den Armen einer Fee. Sie ist aber leider nicht aufgewacht. Vermutlich hat sie gespürt, was da auf der Bühne abging, und entschied sich, es wäre besser einfach weiterzuschlafen. Ich glaube in ihren Träumen lief es einiges entspannter ab als in diesem Durcheinander. Es war eine spannende Interpretation und nach dem wir die Erklärung gelesen hatten, war es auch nicht mehr ganz so verwirrend. Der Regisseur wollte eine apokalyptische Version vom Dornröschen darstellen. Alien-artig. Futuristisch. Während das Dornröschen hundert Jahre lang geschlafen hatte, ist die Welt immer mehr kaputt gegangen, die Menschen wurden immer freier, bis sie irgendwann ganz sie selbst sein konnten - oder so. Warum sie dann alle nackt und schreiend herumgerannt sind, hat sich mir immer noch nicht ganz erschlossen. Aber gut. Ich werde es wahrscheinlich nie verstehen. Werde es aber auch so schnell nicht vergessen. Wir gingen danach noch etwas trinken, um das Gesehene zu verarbeiten. Das war schon eine Nummer. Und um ehrlich zu sein, war ich vor allem enttäuscht, dass Dornröschen am Ende nicht aufgewacht ist…

Alles Liebe

-Kayley

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