Eintrag 14: Woche 12 (Alltag)
Liebe Alle
Wort der Woche: la vie quotidienne - der Alltag - “So langsam bin ich im Alltag angekommen.”
Neue Woche, neues Glück. Diese Woche ist nicht viel passiert. Ich bin etwas im Alltagstrott angekommen. Die spannenden Stories bleiben diese Woche aus. Trotzdem kann ich erzählen, was ich so getrieben habe. Am Montag habe ich mein neues “Stage” (“Praktikum”) auf der Endokrinologie begonnen. Zum Glück hat ein Erasmus-Student aus Rumänien mit mir zusammen angefangen, somit konnten wir gemeinsam die Station suchen. Mittlerweile habe ich auch echt jedes Schamgefühl verloren. Viele Situationen im Krankenhaus und auch sonst überall sind maximal unangenehm. Aber man gewöhnt sich daran. Das ist das Gute an diesem Austausch. Du bist so verloren, dass es dir irgendwann egal ist, was andere denken. Wenn du nicht nachfragst, verstehst du noch weniger, also fragst du irgendwann einfach jeden “Scheiss”. Und du findest dich damit ab, dass die anderen denken, du hast keine Ahnung. Womit sie auch meistens recht haben. Man befindet sich die meiste Zeit in so unangenehmen Situationen, dass sie irgendwann zur Normalität werden. Ich werde immer entspannter, weil ich mir denke, unangenehm ist es so oder so. Dann fahre ich besser, wenn ich mir nicht auch noch zusätzlich Stress mache. Ich werde so gut es geht von diesem Jahr profitieren, auch wenn es bedeutet, dass ich mich manchmal zum Deppen mache. Aber ich denke mir auch, je früher ich mich zum Deppen mache, alle möglichen Fragen stelle, allen hinterherdackele, um zu sehen, was sie machen, mir alles zum tausendsten Mal erklären lasse, desto mehr Erfahrungen mache ich und desto wahrscheinlicher ist es, dass ich irgendwann den Dreh raushabe und nicht mehr der Depp (die Deppin) bin. Versteht ihr, was ich meine? Weil, im Moment erwartet sowieso niemand etwas von mir. Das bedeutet, das ist meine Chance, um alles auszuprobieren. Alles zu sehen. Und dann lerne ich vielleicht etwas. Und in zwei Monaten erwarten sie vielleicht immer noch nichts, aber dann kann ich schon mehr und fühle mich hilfreicher und sicherer und kann noch mehr davon profitieren, hier zu sein. Dann bin ich wenigstens nicht das ganze Jahr hilflos. Das ist jedenfalls der Plan.
Wir sind also da angekommen und haben uns erst mal durch die ganze Station gefragt, bis wir am richtigen Ort angekommen sind. Natürlich waren wir die ersten. Die anderen Studenten waren alle unglaublich nett und haben uns so gut es ging geholfen. Da sie auch ihren ersten Tag hatten, waren sie ungefähr gleich verloren wie wir. Schön zu wissen, dass es den französischen Studenten ähnlich geht. Auf der Endokrinologie sind die meisten Fälle etwas komplexer als auf der Allergologie, das macht die ganze Sache etwas komplizierter. Am Mittag hatten die anderen Studenten ihre Taschen gepackt und gingen sich umziehen. Ich fragte, ob ich mit ihnen zusammen Mittagessen könne. “Ja klar, wir gehen alle zusammen essen”, meinten sie. Mit “alle zusammen” waren die Studenten, Assistenzärzte und Oberärzte gemeint. Im Büro wurde auf alle gewartet, dann gingen wir alle zusammen ins “Self” (“Mensa”) um zu essen. Schön.
Am Dienstagabend war die Premiere vom neuen Hunger Games Film im Kino. Natürlich habe ich meine deutschen Freunde mobilisiert, um mit mir ins Kino zu gehen. Ich wartete schon über ein Jahr auf diesen Film und war richtig aufgeregt. Meine Freunde kamen alle nacheinander. Die Erste fragte: “Das ist irgendein Hunger Games Film, oder?” “Ja!”, antwortete ich und erklärte ihr kurz worum es ging. Der Zweite kam wenig später dazu und meinte: “Der Film hat irgendwas mit Hunger Games zu tun, oder?” “JA!”, sagte ich wieder. Ich war komplett überrascht, dass sie beide zwar einigermassen wussten, worum es ging, aber eigentlich nicht wirklich eine Ahnung hatten, was das für ein Film war. Für mich unvorstellbar, bedenkt man die Tatsache, dass ich die Tage gezählt habe, bis dieser Film endlich im Kino erscheint. Die Dritte kam an, man glaubt es kaum: “Was für einen Film schauen wir eigentlich?” - Ich habe mich zum Glück schnell vom Schrecken erholt und ihr natürlich kurz erklärt, was es für ein Film ist, damit sie nicht unvorbereitet in die Vorstellung gehen musste. Zu unserer Freude lief er sogar in Originalfassung, also au Englisch. Das Kino war bis auf den letzten Platz ausgebucht. Ich hatte meine Tüte Maltesers ready und freute mich wie ein kleines Kind. Die Tatsache, dass sie alle mitkamen, obwohl sie nicht mal wussten, worum es ging, hat mich auch gefreut. Am Ende fanden sie aber alle den Film super und mir hat es auch Spass gemacht, ihre Reaktionen zu beobachten, da ich schon wusste, was passieren würde. Schliesslich hatte ich das Buch gelesen. Der Film war so gut, ich war begeistert. Ich war so gefesselt, ich hatte nicht einmal meine ganze Tüte Maltesers gegessen. Es hat sich auch etwas falsch angefühlt, Schokolade zu snacken, während ich einen Film schaute, indem sich Kinder abschlachteten. Ich will hier aber jetzt auch nicht zu sehr den Moralapostel raushängen lassen. Daher habe ich trotzdem ein paar Maltesers gesnackt. Aber nur in den weniger düsteren Szenen.
Mittwoch und Donnerstag waren nicht so ereignisreich und ich habe mehrheitlich gearbeitet und gelernt. Am Freitagnachmittag war ich mit meinen Mädels einen Kaffee trinken, das war sehr gemütlich. Wie immer. Als ich nach Hause kam, habe ich mir fest vorgenommen am Abend noch ein bisschen zu lernen. Ich habe mich an den Tisch gesetzt. Dreissig Minuten gelernt. Dann kam meine Mitbewohnerin aus ihrem Zimmer und meinte: “Ich bestelle was zu essen, wollt ihr auch was?” Ich habe immer noch so getan, als würde ich lernen, während die anderen beiden sich über die Bestellungsoptionen (“Bestelloptionen”?) berieten. “Sushi…” “Ja, verkauft. Bei Sushi bin ich auch dabei.” Ich legte meine Zusammenfassungen zur Seite. Ich wusste, dass ich an diesem Abend nicht mehr lernen würde. Ich holte den Wein aus dem Kühlschrank, den ich letzte Woche von meiner Nachbarin geschenkt bekam. Sie ist ausgezogen und wusste nicht wohin damit. Ich habe ihr einen Gefallen getan, indem ich ihr selbstlos eine Flasche abgenommen hatte. Das habe ich gern gemacht. Wir hatten also die Flasche Wein, meine andere Mitbewohnerin trieb noch Chips auf und wir “aperölten” während wir auf unser Sushi warteten. Das Sushi war sehr lecker. Ich habe sogar aus Versehen Fleisch gegessen, weil ich dachte es ist “Crunchy Prawn”. Ich habe schon gemerkt, dass es etwas anders schmeckte, aber ich dachte nicht, dass sie Sushi mit Hühnchenfleisch machten. Als ich es realisiert habe, war es eh schon zu spät und ich liebe “Crunchy Prawn”, deswegen habe ich mir vermutlich auch eingeredet, dass es kein Fleisch ist. Als ich dann meine Mitbewohnerin fragte, ob ich das letzte Stück haben kann, meinte sie nur: “Ja sicher, ich mag sowieso kein Poulet.” Da hatte ich die Gewissheit - und habe trotzdem das letzte Stück gegessen. Es hat einfach zu sehr nach “Crunchy Prawn” geschmeckt. Ich lebe immer noch also halb so wild. Ich werde es vermutlich nicht wieder machen. Aber geschadet hat es mir auch nicht. Nach dem Essen und nach zwei Flaschen Wein waren wir alle in Karaoke-Stimmung, also verwandelten wir unser Wohnzimmer in eine Karaokebar und sangen uns durch zwei Dekaden Musikgeschichte. Von “Durch den Monsun” bis “Hakuna Matata” (auf Französisch) war alles dabei. Wir feierten ausgelassen und als wir auf die Uhr schauten, war es 22:00. Hat sich aber angefühlt, wie 03:00 nachts. Um 22:30 hiess es ab ins Bett und wir zogen uns in unsere Zimmer zurück, um zu schlafen. Das ist der Vorteil, wenn man eine Party in seinem Wohnzimmer veranstaltet. In einem Moment feiert man noch ausgelassen und im nächsten Moment kann man schon in seinem warmen Bett liegen. Toll. Kann ich weiterempfehlen.
Am Samstag habe ich mir einen gemütlichen Tag gemacht. Am Morgen war ich natürlich auf dem Markt und am Abend ging ich noch mit einer Freundin ein Glas Wein trinken. Wir haben über Gott und die Welt geredet. Der Sonntag war ebenso entspannt wie der Samstag. Ein richtig faules Wochenende. Mit vielen Telefonaten in die Schweiz. Top. Nächste Woche um diese Zeit bin ich einfach zu Hause. Ich freue mich so. Ich freue mich alle wieder zu sehen. Wieder mal ein richtiges Familienessen zu haben, mit allen an einem Tisch zu sitzen und zu quatschen. Vermutlich werde ich komplett überfordert sein, alle wieder live zu sehen, aber ich freue mich so sehr darauf. Manchmal fühle ich mich, als würde ich in einem Paralleluniversum leben. Ich meine, ich weiss, dass ich im Moment in Frankreich bin, aber manchmal kann ich das nicht ganz nachvollziehen. Ich lebe in einem anderen Land als mein ganzes gewohntes Umfeld. Ich bekomme zwar mit, was alle so machen aber auch nicht wirklich. Es ist, als würde ich ein komplett anderes Leben führen. Manchmal fühle ich mich so weit weg, obwohl ich jederzeit alle übers Telefon erreichen kann. Es ist, als ob mein Leben an deren Leben komplett vorbeizieht. Deswegen freue ich mich jetzt, wieder einen kleinen Schnittpunkt zu haben, wenn auch nur für ein Wochenende. Aber ich habe auch ein bisschen Angst. Weil ich dann alle wieder sehe und mitbekomme, was ich alles verpasse, während ich hier bin. Und ich habe Angst, dass ich sie alle noch viel mehr vermissen werde, wenn ich dann wieder gehen muss. Aber bald ist Weihnachten, dann bin ich auch wieder zuhause. Ausserdem ist das ganze Wochenende so durchgetaktet, dass ich keine Zeit habe, um nachzudenken. Und wenn ich dann endlich zur Ruhe komme, bin ich sowieso wieder im Zug nach Lyon und dann gibt es auch kein Zurück mehr. Vielleicht gar nicht so schlecht. Aber eins nach dem anderen. Zuerst habe ich jetzt noch eine Woche Praktikum auf der Endokrinologie. Noch viermal schlafen, dann bin ich schon auf dem Weg nach Hause. Ich freue mich.
Alles Liebe
-Kayley