Eintrag 7: Woche 5 (Die kleinen Dinge geniessen)

Liebe Alle

Wort der Woche: les petites choses - die kleinen Dinge - “Manchmal sind es die kleinen Dinge, die das Leben lebenswert machen.”

Okaaay neue Woche, neues Glück. Wo waren wir stehengeblieben? Beim Wochenendtrip in Annecy. Annecy. Traumhaft schön. Sie nennen es “das Venedig von Frankreich”. Ein wunderschönes Städtchen direkt am See, umgeben von den Alpen. Definitiv einen Trip wert. Wir waren zu acht unterwegs und sind natürlich alle nicht zusammen angereist. Ein paar sind mit dem Zug angereist, die anderen mit dem Bus und wieder andere mit einer Mitfahrgelegenheit. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns alle wiedergefunden haben. Als wir alle glücklich vereint waren, haben wir das Städtchen erkundet. Zum Mittagessen setzten wir uns an das Seeufer und genossen das Mittagessen mit einer wunderschönen Aussicht auf die Berge. Danach wollten wir uns kulturell noch weiterbilden und da das Städtchen Annecy nicht wirklich gross ist, hatten wir zwei Optionen: Das Gefängnis oder das Schloss. Wir entschieden uns für ersteres. Schlösser sieht man schliesslich überall aber ein Gefängnis? Wir liefen also los und da hörte ich eine Freundin hinter mir mit ruhiger Stimme sagen: “Kayley, ich glaube du bist in Scheisse gesessen.” Toll. Natürlich habe ich es so lange nicht gemerkt, dass sie nun schon eingetrocknet war – wenigstens hat es nicht gestunken. Ich habe beschlossen, dass mich das nicht stört und ich mit Stolz den restlichen Tag die Scheisse herumtragen werde.

Ich muss sagen, das Beeindruckendste am Gefängnis war seine Lage. Es ist mitten in der Stadt. Das Gebäude, das man als erstes sieht, wenn man ins Stadtzentrum läuft. Es ist im Kanal, das bedeutet, von einem Wassergraben umgeben und nur über eine Brücke erreichbar. Sieht schon cool aus. Voller Vorfreude betraten wir also das Gefängnis… und wurden enttäuscht. Das Gefängnis ist heute ein Museum über den Aufstieg des Städtchens Annecy zur neuen Metropole Frankreichs. Ganz ehrlich, es interessiert mich überhaupt nicht, wo ihr euch in zehn Jahren seht. Ich will euch nicht heiraten. Kennt ihr das, wenn ihr in einem Museum seid und keine Ahnung habt, was euch die Ausstellung sagen will? Wir liefen durch diese Räume und haben nicht gecheckt, was wir da ansahen. Ich habe wirklich versucht, einen Sinn darin zu finden aber mit jedem Raum war ich noch mehr verwirrt. Das spannendste war die Küche. Der Innenhof war auch sehr schön und wir stellten uns vor, wie schön die Feste hier gewesen sein mussten, in diesem schönen Innenhof, in der Mitte stand ein Baum, perfekt um ein paar Laternen aufzuhängen. Dann ist uns wieder in den Sinn gekommen, dass wir immer noch im Gefängnis stehen und sie hier vermutlich keine Feste gefeiert haben und eher Stricke an den Baum banden als Laternen. Wir mussten dann erst mal alle aufs Klo. Ich will jetzt keine Klischees bedienen, aber wir sind zu acht aufs Klo gegangen. Und es hatte eine Kabine. Das war perfekt, so hatte ich während des Wartens genug Zeit, um die Scheisse von meinen Hosen zu putzen. Meine Freundin war so lieb und hat den Spiegel für mich gehalten, damit ich den Fleck sehen konnte. Leider hat das nicht funktioniert und sie hat freundlicherweise versucht den Fleck von meinem Hintern zu entfernen. Wäre jemand reingekommen, hätte das ein schönes Bild abgegeben. Ich übers Waschbecken gebeugt, eine weitere mit der Hand auf meinem Hintern, fünf Zuschauerinnen und eine ahnungslose Achte auf dem Klo. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich da an etwas anderes denken. Nach unserem Besuch im Gefängnis, das heute ein Visionboard für die Stadt Annecy geworden ist, liefen wir doch noch zum Schloss hoch, um es uns von Nahem anzusehen. Um in den Schlosshof zu gelangen, brauchte man natürlich ein Ticket. In unserer Gruppe war zum Glück eine Französin dabei, die uns zeigte, wie man das “the French way” macht. Warten bis jemand rauskommt, Türe aufhalten, mit Selbstvertrauen eintreten und sich nicht mehr umdrehen. Hat funktioniert. Der Ausblick war es definitiv wert. Um unseren Erfolg zu feiern, gönnten wir uns dann noch einen Kaffee. Ich bestellte mir einen Cappuccino. Was habe ich bekommen? Milchschaum in einem winzigen Espressotässchen und einen Tropfen Espresso. In diesem Moment habe ich all meine Lebensentscheidungen hinterfragt. Ich sass da, mit Scheisse am Arsch und einem Cappuccino in der Hand, der nicht wirklich ein Cappuccino war und mich vier Euro gekostet hat. Als ich es ausgesprochen habe, fingen alle an zu lachen. Ich musste selbst lachen. Ich schaute in die Runde. Um mich herum sassen sieben Frauen. Alle aus unterschiedlichen Städten, aus unterschiedlichen Ländern. Wir alle sind weg von zuhause und haben uns irgendwie in Lyon gefunden. Diese Frauen sitzen hier am Tisch und lachen – teils über mich – aber vor allem mit mir. Sie putzen die Scheisse, in die ich mich gesetzt habe, von meinem Arsch. Sie empören sich mit mir, dass ich gerade vier Euro für einen kläglichen Milchschaum ausgegeben habe. In diesem Moment habe ich gespürt, was es bedeutet ein Teil von einer Gemeinschaft zu sein. Wir alle sind hier, um uns gegenseitig zu unterstützen. Und das ist ein schönes Gefühl.

Am nächsten Tag ging es ab in die Berge. Schliesslich waren wir in den Alpen. Da muss man schon wandern. Die Wanderung war hart, es ging 900 Höhenmeter steil bergauf, 22 Kilometer weit und die Strecke bestand aus Steinen und Geröll, und meine Wanderschuhe waren Puma-Sneakers ohne Profil. Bombastisch. Doch der Ausblick: Wow! Der Ausblick war traumhaft. Ein Mittagessen mit solch einer Aussicht hat man nicht alle Tage. Da haben sich die Strapazen gelohnt. Wir hatten sogar Sicht auf den Mont Blanc. Unten angekommen hiess es auch schon wieder ab nach Hause. Wir hatten leider keine Zeit mehr, um zu duschen oder uns umzuziehen, bevor wir uns in den Bus setzten. Spätestens als meine Sitznachbarin im Bus sich diskret die Maske anzog, wusste ich, dass ich vermutlich mehr gestunken hatte als gedacht. “Puh, das werden lange zwei Stunden…”, dachte ich. Vermutlich dachte meine Nachbarin dasselbe. Nach zwei Stunden Busfahrt konnte ich die Treppe aus dem Bus fast nicht mehr runtersteigen, weil meine Knie so wehtaten. Irgendwie habe ich es dann doch noch nach Hause geschafft und bin erst mal duschen gegangen. Ein schönes Ende für ein schönes Wochenende.

Die Woche darauf hiess es studieren. Und Wäsche waschen. Am Dienstag war ein unglaublich produktiver Tag. Ich traf mich am Nachmittag mit den anderen in der Bib, um zu lernen. Nach dem Mittagessen brauchten sie erst einmal Kaffee, also setzten wir uns nochmal hin, um Kaffee zu trinken. Denn wie wir alle wissen: man braucht Koffein, um zu lernen. Danach waren leider alle Plätze in der Bib schon besetzt, also setzten wir uns wieder in die Cafeteria. Da war es aber so laut, dass wir uns eh nicht konzentrieren konnten, also haben wir geredet. Dann dachten wir, wir könnten in ein Café sitzen, um da zu lernen. Nur mussten wir noch auf eine Freundin warten. Also haben wir gewartet. Als wir dann endlich im Café waren und uns setzten, um zu lernen, hat mein Vater angerufen. Da musste ich natürlich rangehen. Schlussendlich habe ich 1h gelernt und ging dann wieder nach Hause, um mit meinen Freundinnen aus der Schweiz zu telefonieren. Ein erfolgreicher Tag für die Freundschaft. Weniger erfolgreich für meinen Lernplan. Die restlichen Tage der Woche waren ruhig. Donnerstagabend war wieder spanisches Abendessen in der Studenten-Residenz von Freunden angesagt. Diesmal habe ich 1,5l Cola mitgebracht, damit ich keinen Wein trinke. Hat fast funktioniert. In Spanien trinken sie Wein mit Cola und einmal nicht hingeschaut leerten sie schon Wein in meine Cola-Tasse. Ich stehe also da, mit meiner Tasse gefüllt mit Wein und Cola – und alles, woran ich denke, ist, wenn mein Vater das sehen könnte. Im negativen Sinne. Also Papa, ich entschuldige mich hiermit, dem Wein so etwas angetan zu haben. Es war aber nur ein kleiner Schluck. Und es war gar nicht mal so schrecklich. Aber gut war es auch nicht. Kinder bleibt beim Wein. Ich meine Cola. Zweiter Versuch: Kinder trinkt keinen Wein. Trinkt Cola. Erwachsene bleibt beim Wein. Ohne Cola. (Aber nur ein Glas pro Tag!).

Am Freitag habe ich mich mit Freunden auf ein Bier getroffen und zum ersten Mal einen Abend mit mehr Franzosen als Nicht-Franzosen an einem Tisch verbracht. (Abgesehen von all den Essen in meiner WG, wenn beide meine Mitbewohnerinnen anwesend sind). Vielleicht schaffe ich es doch noch, mich zu integrieren. Den Samstag habe ich mir selbst gewidmet. Ich bin am Morgen aufgestanden, habe zuerst mal mein Zimmer aufgeräumt, die Küche geputzt. Dann bin ich auf den Markt gegangen. Ach, ich habe den Markt schon vermisst. Ich bin wieder zu meinem Freund, dem Verkäufer und wir haben uns kurz unterhalten. Ich freue mich immer, wenn ich mit ihm reden kann. Er verkauft Gemüse. In seinem Sortiment gibt es alles mögliche, auch viel asiatisches Gemüse. Er erklärt mir dann immer alles ganz genau und ich wähle dann trotzdem immer die Basics: Peperoni, Zucchini, Gurken, Tomaten und Kartoffeln. Ich mag meine Komfortzone, vor allem beim Kochen. Er hat mich angesehen und gesagt: “Willst du nicht mal etwas neues ausprobieren?”. Ich dachte mir, eigentlich bin ich zufrieden mit meiner Auswahl. Zwei Sekunden später hatte ich irgendeinen asiatischen Kohl in der Hand. “Geht aufs Haus”, meinte er. “Du musst mal etwas Neues ausprobieren, das macht mehr Spass.” Ich schaute mir das Ding an und wusste nicht mal, wie ich es kochen sollte. Geschweige denn, welche Teile davon ich essen kann und welche nicht. Kann man es roh essen? Wie lange muss ich es kochen, dass ich nicht sterbe? Wie schneide ich es am besten? Schneidet man es überhaupt? “Beruhige dich, der Mann hat dir nur einen Kohl geschenkt. Hör auf, alles zu überdenken”, dachte ich. Ich bedankte mich für den Kohl. Und habe mir vorgenommen, es zu Googlen sobald ich zuhause bin. Im Nachhinein habe mich sehr über den Kohl gefreut, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich damit anfangen sollte. Eine neue Chance, etwas Neues zu lernen. Am Nachmittag habe ich mit meiner Mitbewohnerin etwas ausserhalb von Lyon eine Kapelle angesehen. Man hatte einen wunderschönen Ausblick über die Stadt. Als wir ankamen, haben wir gesehen, dass man ein Ticket braucht, um die Kapelle anzusehen. Natürlich hatten wir keins. Und natürlich war es auch schon ausgebucht. Entschlossen, diese Kapelle von innen zu sehen, jetzt wo wir schon hier waren, habe ich den Tourguide gefragt, ob wir trotzdem teilnehmen können. Streng genommen habe ich gefragt, ob wir teilen können, weil ich die Worte “partager” (“teilen”) und “participer” (“teilnehmen”) verwechselt habe. Er hat mich dennoch verstanden und wir konnten tatsächlich noch teilnehmen! Erfolg! Die Kapelle und vor allem der Garten waren echt eindrücklich. Es war eine Eremiten-Kapelle, das heisst sie wurde jeweils von einem Mann, der gerne in Einsamkeit lebte, bewohnt. Beim Eingang wurden wir von einem Totenkopf in einem Zifferblatt begrüsst. Damit man sich seine eigene Sterblichkeit beziehungsweise die Endlichkeit des menschlichen Lebens in Erinnerung rufen konnte. Nach dem Motto: “Du bist herzlich willkommen, trete ein  - aber strapazier meine Gastfreundschaft nicht über, sonst bist du tot”. Die meinten es wirklich ernst mit dem Alleinsein-Wollen. Aber mal ehrlich, ich brauche auch so ein Ding für meine Eingangstür. Während seines Aufenthaltes baute ein Eremit namens Frère François (ein Maurerlehrling aus dem 19. Jahrhundert) über 30 Jahre lang einen traumhaften Steingarten. Wow. Er hat zu Ehren von Jesus Christus und vermutlich auch zu Ehren von Gott – die Führung war auf Französisch, ich habe nicht alles mitgekriegt – einen Kreuzweg gebaut. Aus Steinen baute er kleine Gebäude, die alle ein wichtiges Ereignis im Leben Jesu (“seinen Leidensweg”) symbolisieren. Er baute auch Grotten für Statuen, Teiche, einen Aussichtspunkt… Alles von Hand. Man sieht heute noch seine Fingerabdrücke in den Gebäuden. Es war unglaublich! Leider wurden viele Statuen nach dem zweiten Weltkrieg gestohlen und man sieht nur noch die Höhlen, ohne die Statuen. Ich war ehrlich gesagt froh darüber. Stellt euch vor ihr geht da durch und euch schauen 1000 tote Augen dabei zu. Nein, danke. Dennoch schade um die Statuen, übrig geblieben sind nur etwa zehn Stück. Die haben jetzt einen eigenen Platz im Haus des Eremiten: Man nennt es auch den “Statuen-Friedhof”. Gruselig. 

Jetzt sitze ich hier am Tisch und freue mich auf die Zeit, die noch kommt. Ich glaube so langsam bin ich angekommen. Ich habe meine Freunde gefunden, mein Umfeld aufgebaut. Gestern Abend habe ich allein zu Hause verbracht und ich habe es geliebt. Ich hatte keine Angst, etwas zu verpassen. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, nichts zu tun. Ich habe mich gefreut, den Abend allein zu geniessen. Ich freue mich, die Stadt zu entdecken und sie euch allen zu zeigen, wenn ihr mich besuchen kommt. Ich freue mich zu lernen. Ich freue mich auf das, was noch kommt.

Alles Liebe

-Kayley 

 

 

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