Eintrag 8: Woche 6 (Krabbeltiere, Kämpfe und Sonnenaufgänge)
Liebe Alle
Wort der Woche: le lever du soleil - der Sonnenaufgang - “Es gibt nichts schöneres, als zuzuschauen, wie die Sonne aufgeht.”
Endlich bin ich wieder auf dem aktuellen Stand der Vorlesungen. Ich habe das Wochenende genutzt, um meine Zusammenfassungen zu schreiben und bin froh nicht mehr hinterher zu sein. Hoffentlich bleibt es so. Letzte Woche habe ich mich für einen Theaterkurs eingeschrieben. Sie hatten keinen Platz mehr also liess ich mich auf die Warteliste setzen. Ich dachte mir, das wird sowieso nichts. Falsch gedacht. Am Montag um 16:00 checkte ich meine Mails: Nachricht vom Theaterkurs. Jemand hatte kurzfristig abgesagt, ich konnte doch mitmachen. Der Kurs startete am Montag um 18:00 also zwei Stunden nachdem ich die Mail gesehen habe. “Oh Shit! Es wird ernst.” Gleichzeitig dachte ich mir: “Oh yes! Das wird soo cool! Ich wollte das schon immer einmal ausprobieren.” Im Moment habe ich die Einstellung: Wenn ich denke, dass ich etwas gerne ausprobieren würde, dann mach ich das auch, insofern es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt... Also wenn ich denke: “Ich wollte schon immer mal ins Theater” – dann melde ich mich an. Dieses Austauschjahr ist für mich die beste Gelegenheit, um neue Dinge auszuprobieren. Wenn ich mich blamiere - nicht so schlimm. Ich bin in Frankreich. In neun Monaten gehe ich zurück in die Schweiz und dann wird sich sowieso niemand mehr daran erinnern. Und wenn doch, werde ich es nicht mitkriegen. Also los ging’s in den Theaterkurs. Ich habe noch kurz einer Freundin geschrieben, die sich auch angemeldet hat, damit ich nicht allein da aufkreuzen musste. Zum Glück waren wir zu zweit. Es war nicht ganz einfach den Raum zu finden. Schlussendlich haben wir das richtige Gebäude gefunden, nur den Eingang nicht. Zehn Minuten später ist uns auch das geglückt und wir haben an der Tür geklingelt. Die Theaterlehrerin öffnete die Tür. Sie war sehr freundlich. Wir traten ein. Das Gebäude war uralt. Der Putz blätterte von den Wänden, die Treppenstufen knarzten, die Türklinke fiel fast aus der Halterung. Das Haus hatte Charakter. Das gefiel mir. Der Kurs hat Spass gemacht. Die Gruppe war locker, alle waren superfreundlich und offen. Ich denke, ich werde noch mal hingehen. Dienstag war ein gemütlicher Tag. Ich blieb zuhause, um meine Zusammenfassungen zu schreiben und am Abend habe ich zum Essen abgemacht. Wir gingen zu zweit essen. Eine Freundin und ich. Das war so schön. Einfach einmal nur mit einer einzelnen Person etwas zu machen. Ohne Gruppe. Und auch einmal über mehr zu reden als über das Wochenende oder die Uni. Das hat sehr gutgetan. Ich liebe es Menschen kennenzulernen. Richtig kennenzulernen. Zu erfahren, was jemand im Leben erlebt hat, wie man aufgewachsen ist, was einen beschäftigt, wie es jemandem geht. Diese Gespräche schätze ich sehr. Man fühlt sich verbunden. Verstanden. Danach haben wir uns noch ein Eis gegönnt. Zwei Kugeln. Cookie und Erdnuss. Und haben uns mit den anderen in eine Bar gehockt. Das war natürlich auch schön. Nur anders. Am Mittwoch habe ich meinen Tag genossen. Ich habe den Morgen zuhause verbracht, telefoniert, und am Nachmittag mit meinen Freundinnen zum Kaffee abgemacht. Auf dem Weg aus dem Haus, dachte ich, kann ich auch gleich noch kurz den Müll rausbringen. Ich zog den Müll aus dem Eimer… Und wurde von einer Armee Maden überrascht. Überall auf dem schwarzen Sack tummelten sich weisse kleine Würmchen. Igitt. Ich bin nicht heikel was Krabbeltiere aller Art angeht, aber das war echt nicht schön. Und der Gestank. Kennt ihr das, wenn ihr euch wünscht, etwas nicht als erstes bemerkt zu haben? Wenn zum Beispiel eure Katze in den Flur gekotzt hat und ihr als erstes dran vorbeiläuft? Dann müsst ihr die Sauerei aufputzen. Genauso fühlte ich mich mit den Maden. Warum habe ich den Müll da raus gezogen? Jetzt hatte ich sie schon gesehen, den Abfall zurück in den Eimer stecken ging nicht mehr. Ich schrieb meinen Freundinnen, dass ich noch eine Weile brauchte, da ich zuerst gegen hunderte von Maden in den Krieg ziehen musste. Ich bewaffnete mich mit Abfallsack und Küchentüchern, atmetet einmal tief durch und hielt die Luft an. Auf in den Kampf. Diese Würmer waren aber auch hartnäckig. Da klingelte mein Telefon. Mein Papa. Natürlich ging ich ran und erklärte ihm, dass ich mich gerade mitten in einer Schlacht gegen Würmer befand, aber wenn es ihm nichts ausmachte, würde ich ihm gerne nebenher Gesellschaft leisten und dabei zuhören, wie sein Wochenende war. Normalerweise liege ich auf meinem Bett, wenn ich telefoniere. An diesem Tag habe ich unsere Wohnung gegen Maden verteidigt. Man muss auch mal seine Komfortzone verlassen. Eine Stunde später habe ich die Maden bezwungen und trat endlich, den Abfallsack des Verderbens in der Hand, vor die Tür. Der restliche Tag war dagegen sehr entspannt und den Abend liess ich auf der Couch zu Aladdin ausklingen.
Donnerstagmorgen: Ich sitze ich auf der Bank und schaue dem Sonnenaufgang zu. Als die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken bahnt, ohne Eile, mit aller Zeit, die sie sich selbst zugesteht, denke ich daran, wie ich vor nicht allzu langer Zeit (im Sommer letzten Jahres, um genauer zu sein) angefangen habe, davon zu träumen hier zu sein. Ich wusste, ich musste weg. Weg aus meinem Alltag, weg aus meiner Abwärtsspirale. Ich wusste keinen anderen Ausweg als so weit wie möglich weg zu rennen. Ich wollte frei sein. Frei von meinen selbst auferlegten Zwängen. Frei von den Erwartungen, die ich an mich selbst und mein Leben hatte. Frei von dem Schauspiel, das ich jeden Tag aufführte, um alle um mich herum und vor allem mich selbst davon zu überzeugen, dass ich nicht vollkommen leer war. Dass ich nicht am Abend, wenn ich ins Bett fiel und nicht einschlafen konnte, dachte, es wäre einfacher gar nicht erst wieder aufzuwachen. In meinen Tagträumen stellte ich mir vor, hier zu sein. Weit weg von allem. Ich träumte davon, einfach wieder atmen zu können. Mehr wollte ich nicht. Ich wusste tief im Inneren, dass ich wieder am Leben teilhaben werde, ich wusste nur nicht wie. Im Januar dieses Jahres habe ich angefangen zu kämpfen. Ich habe angefangen zu reden. Gleichzeitig habe ich immer noch an meinem Fluchtplan gearbeitet und meine Bewerbung für dieses Austauschjahr geschrieben. Im Februar habe ich angefangen die Wahrheit zu sagen. Immer noch darauf bedacht, nicht zu viel preiszugeben. Im März habe ich angefangen, ehrlich zu mir selbst zu sein. Trotzdem war da eine Stimme in meinem Hinterkopf, die mir jeden Tag sagte, dass ich hier raus musste. Also habe ich mich weiterhin durch den Bewerbungsprozess leiten lassen. Überzeugt davon, dass ich das sowieso nicht schaffe, dennoch getrieben von dem Bedürfnis einfach zu verschwinden. Im April habe ich angefangen, meinen Worten Taten folgen zu lassen. Im Mai konnte ich endlich wieder atmen. Ich habe jeden Atemzug genossen. Mit jedem Atemzug lösten sich mehr und mehr die Ketten, in die ich mich selbst gezwängt hatte. Mit jedem Atemzug strömte das Glück mehr und mehr durch mich hindurch. Ich war frei. Endlich frei. Ich wollte jeden Tag geniessen, jeden Moment, jeden Augenblick. Wenn mich jemand fragte, wie es mir geht konnte ich sagen es geht mir gut. Und es war die Wahrheit. Es ging mir gut. Ich wollte immer noch weg. Die Gründe haben sich aber geändert. Ich war rastlos. Ich wollte meine neu gewonnene Energie in ein neues Abenteuer stecken. Ich wollte das Leben auskosten. Zum ersten Mal in dieser ganzen Vorbereitung, kam mir der Gedanke, dass ich das schaffen kann. Im Juni fing ich an mehr auf mich selbst zu hören und das zu tun, was ich wollte. Ich habe angefangen, den Menschen um mich herum mitzuteilen, dass ich tatsächlich gehen werde. Im Juli ging ich auf Wohnungssuche. Mein Vorhaben wurde ernst. Im August startete ich in mein Abenteuer. Im September bin ich angekommen. Jetzt ist Oktober. In den letzten zwölf Monaten habe ich die dunkelsten Stunden meines Lebens erlebt. Gleichzeitig aber auch die hellsten. Ich habe diese Reise gestartet, weil ich von meinem Leben und vor allem vor mir selbst fliehen wollte. Ich wollte frei sein. Auf halbem Weg habe ich gelernt, dass ich nicht fliehen muss, um frei zu sein. Ich habe gelernt, dass ich mir selbst viel mehr zutrauen kann, als ich gedacht hätte. Gleichzeitig aber nicht immer die Welt von mir erwarten muss, um genug zu sein. Ich hatte so viel Angst. Angst vor Veränderungen. Angst vor der Wahrheit. Angst vor mir selbst. Ich sitze hier auf dieser Bank und schaue zu wie die Sonne über Lyon aufgeht. Während es um mich herum immer heller wird, ist mir bewusst, dass die Dunkelheit in meinem Herzen nie ganz verschwinden wird. Die Traurigkeit ist ein Teil von mir. Wie ein alter Freund, der ab und zu vorbeikommt. Man trinkt zusammen einen Kaffee, redet über vergangene Zeiten und verabschiedet sich danach wieder mit einer Umarmung. Die Besuche werden immer seltener und immer kürzer. Und vielleicht werde ich die Besuche irgendwann sogar schätzen lernen. Sie erinnern mich daran, wie weit ich gekommen bin. Wie weit ich noch kommen werde. Die guten Tage auf der anderen Seite. Sie werden immer länger. Sie werden immer schöner. Ich geniesse jeden einzelnen davon. Ich schicke meinen Freunden ein Video von diesem traumhaften Sonnenaufgang. Ich schaue kurz auf mein Handy und als ich meinen Kopf wieder hebe, ist sie da. Die Sonne ist aufgegangen. Sie scheint mit voller Kraft. Sie erleuchtet die Stadt. Es ist Oktober. Im Januar war ich verloren in der Dunkelheit. Jetzt, neun Monate später, scheine ich mit voller Kraft. Ich habe so lange von diesem Moment geträumt. Für mich hat dieses Austauschjahr so viele Bedeutungen. Ein Teil von mir hat gehofft, dadurch einfach nur weg zu kommen. Fliehen zu können. Ich dachte, wenn ich nur den Mut habe wegzugehen, würden sich alle meine Probleme in Luft auflösen. Wenn ich nur weit genug weglaufe, können mich meine Sorgen nicht einholen. Wenn niemand von meinen Schwierigkeiten weiss, kann ich so tun, als existierten sie nicht. Und sie vielleicht sogar vergessen. Andererseits ist ein Auslandjahr etwas, dass ich schon immer einmal machen wollte. Ich habe mich gefreut, dass ich weg von zu Hause einfach nur an mich selbst denken kann. Einmal das tun, was ich will, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Zu sehen, wer ich bin, wenn noch niemand eine Vorstellung von mir in seinem Kopf hat. Ein Austauschjahr bedeutet Freiheit. Abenteuer. Mut, etwas Neues auszuprobieren. Egal welche Gründe mich schlussendlich hierhin geführt haben, ich bin froh, habe ich meinen Weg nach Lyon gefunden. Ich habe von diesem Moment sehr oft geträumt. Von dem Moment anzukommen. Von dieser Ruhe. Dieser Stille. Ich dachte immer, ich wollte frei sein. Was ich eigentlich wollte, war Frieden. Einfach sitzen zu können und zufrieden sein. In meinem Kopf war für so lange das reinste Chaos, dass ich vergessen habe, wie sich Stille anfühlt. Wie es ist, durchatmen zu können. Ich sitze hier auf dieser Bank mit einem Lächeln im Gesicht. Ich schliesse die Augen. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Ich bin genau da, wo ich sein sollte. Das einzige Schauspiel, das ich noch veranstalte, ist das im Theaterkurs. Die einzigen Kämpfe, die ich noch habe, sind gegen die Maden in meiner Küche. Ich bin angekommen. Die kleine Stimme in meinem Kopf sagt mir: “Ich bin stolz auf dich.” “Ja”, denke ich mir, “ich bin stolz auf mich.” Vermutlich hätte ich kein Austauschjahr für diese Erkenntnis gebraucht. Hier zu sein ist dennoch ein schöner Bonus.
Nach dem Sonnenaufgang setzte ich mich in ein Café, um zu lernen. Nach und nach gesellten sich meine Freundinnen dazu. Wir mussten auf ein Café ausweichen, weil in Lyon die Bettwanzen (“les punaises de lit") ausgebrochen sind und unsere “Stamm-Bib” belagert haben. Die war nun geschlossen, um vom Kammerjäger gereinigt zu werden. Hoffentlich breiten sie sich nicht bei mir zu Hause aus. Gar keine Lust auf Bettwanzen in unserem Apartment. Am Donnerstagabend gingen wir noch zum Pub-Crawl in die Stadt. Die erste Bar war super. Die Musik war sehr gut. Die Gesellschaft ebenfalls. Das Bier war ekelhaft. Alles genau so, wie es sein sollte. Danach zogen wir weiter. Es war 23:30. Die anderen waren hyped für den Ausgang. Alles woran ich denken konnte, war mein Bett und wie gerne ich am nächsten Morgen aufstehen würde, um den Sonnenaufgang noch einmal zu sehen. Ich verabschiedete mich von den anderen und ging nach Hause. Der Sonnenaufgang am Freitagmorgen war es wert. Der war traumhaft schön. Die Sicht war unglaublich klar. Am Abend gab es wieder einen gemütlichen WG-Abend auf der Couch. Wir schauten einen französischen Film. Auf Französisch. Mit französischen Untertiteln. Ich habe das meiste verstanden! Erfolg! Am Samstagmorgen musste ich früh aufstehen. Auf dem Programm stand der nächste Wochenendtrip nach Annecy. Dieses Mal eine organisierte Reise mit einer Gruppe von fünfzig Studenten. Ja fünfzig. Das kann ja heiter werden. Wie heiter es wirklich war, das erzähle ich euch nächste Woche. Spoiler: Es war eher wolkig als heiter. Mit einigen sonnigen Momenten dazwischen.
Alles Liebe
-Kayley