Eintrag 37: Woche 45 (Danke)

Liebe Alle

Wort der Woche - merci - danke: “Danke, dass ich da sein durfte.”

Nun hiess es langsam Tage zählen. (Als ob ich sie nicht schon die letzten drei Wochen zählte). Aber nun konnte ich sie beinahe an einer Hand abzählen. Mein letztes Praktikum war zu Ende. Jetzt durfte ich Koffer packen, mich mit Freunden treffen, meine Lieblingsrestaurants besuchen und mir ein Tattoo stechen lassen. Das schwebte schon die ganze Zeit, die ich in Lyon war in meinem Kopf herum und langsam wurde die Zeit knapp. Und stand dieses Austauschjahr nicht auch ein bisschen im Zeichen des Loslassens? Einfach mal machen. Denken kann man später. Ich weiss, viele würden bezweifeln, dass das alle Lebensbereiche betreffend ein sinnvoller Plan wäre. “Ein Tattoo ist für immer auf deiner Haut. Überleg’s dir lieber zweimal.” Glaubt mir, ich hatte es mir mehr als zweimal überlegt. Genau das ist mein Problem. Also erinnerte ich mich wieder an meinen Vorsatz und tat das, worauf ich Lust hatte. Ein Tattoo würde mich nicht umbringen. Und es gäbe schlimmere Entscheidungen, die man bereuen könnte. (Und wir reden hier von einem kleinen Schriftzug, nicht von einem rückenausfüllenden, kajakfahrenden Waschbären - obwohl, vielleicht wird das mein nächstes Tattoo. Dann dürft ihr mir gern ins Gewissen reden. "Überleg’s dir lieber zweimal…” - ihr wisst schon.) Ausserdem hat mir meine Schwester am Wochenende noch einmal gut zugeredet und einer meiner Freunde hier hat mir das Insta-Profil von einem “Artist” geschickt. Die Tattoos, die er (oder sie? in meinem Kopf war es ein "er”, obwohl ich keine Ahnung hatte) so auf seinem Profil hatte, sahen sehr gut aus. Genau so etwas hatte ich mir vorgestellt. Also entschied ich mich, mein Glück zu versuchen. Kein Zurück mehr. Am Mittwoch schrieb ich ihm eine Nachricht: “Ich habe heute oder morgen Zeit. Du auch?” Nach zwei Minuten hatte ich meine Antwort: “Morgen 13:00.” “Perfekt!”, gab ich zurück. Donnerstag 13:00. So einfach war es.

Aber fangen wir beim Montag an: Am Montag organisierte ich all meine Dinge, die noch organisiert werden mussten. Am Abend traf ich mich mit meinem Freund aus Italien. In der Bar realisierten wir, dass Frankreich an diesem Abend spielte. Sie haben sogar gewonnen. Diese EM zog komplett an mir vorbei. Er hatte noch Pläne, mit seinen Freunden ins Kino zu gehen. Kurzerhand fragte er mich, ob ich ihn begleiten wollte. “Warum nicht?”, sagte ich und schloss mich ihm an. Wir trafen die anderen im Kino. Wir waren etwas spät dran, die Werbung lief schon. Der Film den wir schauten: “Kinds of Kindness”. Ein interessanter Film über Arten toxischer Beziehungen, sehr grotesk dargestellt. Sagen wir so, es sind mehrere Charaktere gestorben. Auf nicht immer sehr schöne Art und Weise. Nach drei Stunden Film waren wir alle ziemlich verstört und ziemlich gelangweilt zugleich. Eine spannende Kombination aus entgegengesetzten Emotionen, von denen ich nicht wusste, dass man sie gleichzeitig fühlen kann. Man weiss nicht genau, was man gesehen hat, aber man weiss, dass man es vielleicht lieber gar nicht gesehen hätte. Wie bei diesen hässlichen Gemälden über die alle schwärmen und wenn du dann sagst, du findest es hässlich sagen alle du verstehst einfach nicht, was der Künstler damit ausdrücken will. Genauso fühlten wir uns am Ende des Films. Ich hatte definitiv nicht verstanden, was uns der Künstler mitteilen wollte. Aber das Gemälde, oder in diesem Fall der Film, war dennoch “hässlich”. Ich würde sagen, wir hatten beide recht. Aber egal. So wichtig war es mir dann auch nicht.

Am Dienstag und Mittwoch war ich ganz entspannt unterwegs. Man muss sich ja auch einmal eine Pause gönnen. Und am Donnerstag. War es so weit. Mein Tattoo. Ich freute mich sehr. Ich wusste zwar immer noch nicht, ob ich meinen Termin bei einer Tätowiererin oder einem Tätowierer gebucht hatte und wo ich genau hinmusste, aber das würde ich schon noch herausfinden. Ich schrieb einer Freundin, ob sie spontan mitwollte und sie hat sofort geantwortet: “Ja natürlich bin ich dabei!”. Sehr gut. Zu zweit macht es sowieso mehr Spass. Wir trafen uns vor dem Studio. Traten ein. Ein Tätowierer kam gerade von seiner Rauchpause zurück. “Zu wem wollt ihr?” Ich zeigte ihm das Insta-Profil (zu meiner Verteidigung es stand kein Name dabei). “Das bin ich.” “Ah… super!” Ich hoffte er würde es mir nicht übelnehmen, dass ich keine Ahnung hatte, wer er war. Sonst würde ich es dann spätestens auf meiner Haut sehen können. Nach meinen unzähligen Verbesserungsvorschlägen alle Striche genauso lange zu ziehen, wie ich sie mir vor meinem inneren Auge vorgestellt hatte, legte er los. Ich glaube eine Änderung mehr hätte er nicht mehr verkraftet. Ich war jedenfalls sehr zufrieden mit dem Endergebnis. Und er hat es mir scheinbar nicht übelgenommen. Oder er war einfach professionell genug, sich nichts anmerken zu lassen. In beiden Fällen war ich glücklich. Mit neuem Tattoo unter der Haut gab es einen Kaffee und etwas Kleines zu essen im süssen Café gegenüber. Die süssen Cafés gegenüber. Die werde ich vermissen.

Am Freitagmorgen setzte ich mich noch einmal auf die Bank bei meinem Lieblings-Aussichtsplätzchen und beobachtete den Sonnenaufgang. Schon schön da oben. Danach gab es ein letztes Mal Brunch mit meiner Erasmus-Freundin. Am Abend kam mein Freund das letzte Mal übers Wochenende. Ein schönes Gefühl zu wissen, dass ich am Sonntag mit ihm nach Hause fahren würde. Bisschen komisch. Aber vor allem schön. Am Samstagabend gab es noch einmal Abendessen mit meiner Mitbewohnerin und ihrem Freund. Am Sonntag noch einmal Kaffee mit meiner anderen Mitbewohnerin. Dann Wohnungsabgabe, Abschiedsgeschenke, Tränchen hier, Umarmungen da. Ein letztes Mal Brunch in unserem Lieblingscafé. Ein paar Mitbringsel einkaufen für zuhause. Die letzten Tage vergingen wie im Flug. Alles noch einmal sehen. Alle noch einmal treffen. Überall noch einmal entlanggehen. Im Herzen ist man schon fast weg, aber man will dennoch die letzten Tage geniessen. Man ist ja schliesslich noch da. Aber eigentlich ist man langsam bereit zu gehen. Und dann. Zeit mich von meinem Teppich zu verabschieden. Wie bereits gesagt: „d Lüüt gönd, aber de Teppich bliibt.“ Der Teppich würde hierbleiben. Er gehört nach Lyon. Und ich, ich gehöre in die Schweiz. Und nun war es an der Zeit zu gehen. Ein letzter Blick zurück. Einatmen. Einsteigen. Ausatmen. Losfahren. Au revoir Lyon. Schön, dass ich da sein durfte.

Alles Liebe

-Kayley

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