Eintrag 38: Woche 51 (Nachwort)

Liebe Alle

Wort der Woche - la confiance - das Vertrauen: “Mit etwas Vertrauen wirst du deinen Weg schon finden.”

Es waren schon sechs Wochen vergangen, seit ich von Lyon weggefahren war. Ich traue es mich fast nicht zu sagen aber die Zeit verging echt wie im Flug. Nach drei Wochen Amerikareise, die traumhaft war, war ich nun wieder zuhause auf dem schönen Seltisberg. Zurück bei meinen Eltern. Überall standen Kisten, gefüllt mit meinem Hab und Gut aus Lyon. Daneben verteilt meine Überbleibsel, die zehn Monate zuhause auf mich gewartet hatten. Das ganze Chaos darauf wartend, von mir beseitigt zu werden. Genauso chaotisch wie in meinem Zimmer, sah es auch in meinem Kopf aus. Um ehrlich zu sein, hatte ich es mir anders vorgestellt. Ich hatte die ganze Zeit befürchtet, wie schwer es sein würde, von Lyon wegzufahren. Dabei war ich nicht darauf vorbereitet, wie schwer es sein würde, wieder anzukommen. Ich hatte zehn Monate zwischen zwei Welten gelebt. Wenn mir eine Welt zu viel wurde, konnte ich in die andere entfliehen. Jetzt musste ich eine Welt aufgeben und mich wieder auf eine einzige Welt einlassen. Ich war nicht mehr nur fürs Wochenende da. Ich war nicht mehr nur auf Besuch. Ich war da. Ich würde dableiben. Wenn es mir zu viel werden würde, könnte ich nicht einfach den Zug nehmen und in mein zweites Zuhause 400km entfernt von hier verschwinden. So froh ich auch war wieder zuhause zu sein. Ein kleiner Teil meines Herzens war noch in Frankreich. Und vermutlich würde er auch immer dableiben. Ich musste nur lernen, ohne ihn zu leben. Ich musste meinen Rhythmus in der Schweiz wiederfinden. Mich wieder daran gewöhnen zuhause zu sein. Mich wieder in die Lücke einreihen, die meine Abwesenheit hinterlassen hatte. Es fühlte sich an, als würde ich noch zwischen den Welten schweben. Als ob ich die alte noch nicht ganz losgelassen und die neue noch nicht ganz erreicht hätte. Ich hoffte, mit der Zeit würde es einfacher werden. Dass ich irgendwann wieder ganz auf dem Boden ankommen würde und meinen Halt wieder finden würde. Ich war wieder zurück. Und ich freute mich darauf. Ich brauchte nur ein bisschen Zeit, um das Chaos in meinem Kopf aufzuräumen. Nicht zu vergessen, das Chaos in meinem Zimmer. Und wer schon einmal in seinem Haus oder nur schon in seinem Zimmer ausgemistet hat, weiss, dass es eine Weile dauern könnte. Trotzdem freute ich mich darauf, wenn sowohl mein Zimmer als auch mein Kopf, wieder einigermassen Ordnung haben würden.

Diese Zeilen klingen fast etwas entmutigend ich weiss. Natürlich war nicht alles schlecht am Nach-Hause-kommen. Natürlich war es auch schön wieder zuhause zu sein. Bei meiner Familie. Meinen Freundinnen. Meinen Freunden. Bei Dir. Und natürlich ist es toll, sich spontan zum Mittagessen zu sehen, oder mal kurz nach Feierabend etwas trinken zu gehen. Ich freute mich unglaublich jede Einzelne und jeden Einzelnen von euch wieder zu sehen. Es war schön zu hören, was bei euch alles gelaufen war. Euch zu erzählen, was bei mir alles so gelaufen war. Und es ist schön in Erinnerungen zu schwelgen. Ich hatte einiges erlebt in diesen zehn Monaten. Ich habe einiges gelernt. Und wie bereits zu Beginn meines Austauschjahres, habe ich nun wieder einige Erkenntnisse, die ich gern mit euch teilen würde:

Der Markt (le marché) - Ohne Worte. Bis zum Ende meines Austauschjahres eine meiner absoluten Lieblingsbeschäftigungen in Lyon: Am Samstagmorgen auf den Markt zu gehen. Es tat gut einen fixen Programmpunkt zu haben. Es tat gut netten Menschen zu begegnen, die mein Französisch nicht nur akzeptierten, sondern mich ermutigten, zu sprechen. Glaubt mir, das war Gold wert. In Momenten des Zweifelns war ich sehr dankbar über ein paar freundliche Gesichter, die mir Mut zu sprachen und geduldig jeden Satz wiederholten, den ich nicht verstanden hatte. Nicht nur der Markt war toll. Auch die Cafés waren immer wieder ein Lichtblick in meinen Tagesabläufen. Ein kleines bisschen Gemütlichkeit. Geborgenheit in Form eines “Matcha Latte” oder eines “Dirty Chai” – mit Hafermilch natürlich (auch wenn das immer 1 Euro extra kostete). Ein Schluck und es ging mir besser. Entspannt sitzen, die süssen Versuchungen ausprobieren und ein paar Zeilen schreiben. Es hat gut getan zu wissen, dass irgendwo am anderen Ende jemand las, was ich da von mir gab. Eine Übergabe meiner Gedanken. Von meinem Kopf zu euren. Ein Loslassen. Ein Teilen meiner Erlebnisse, meiner Gefühle. Es machte die schönen Dinge schöner und die mühsamen Dinge weniger mühsam. Ich hatte das Gefühl, ich würde es euch durch das Tippen in die Tastatur erzählen. Buchstabe für Buchstabe. Wort für Wort. So als wärt ihr gerade bei mir. Gegenübersitzend mit einem "Matcha Latte” (von mir aus auch Cappuccino) in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen. Und das war für mich, noch mehr als der buchstäbliche “Matcha Latte”, der neben meinem Laptop stand, ein Gefühl von Geborgenheit, das mir immer wieder sehr viel Wärme schenkte. In guten, wie in schlechten Tagen. Danke.

Das Französisch (le français) - Trotz entspannten Tagen im Café, sag ich’s euch wie’s ist: Französisch ist eine sehr schwere Sprache. Sehr, sehr schwer. Ich dachte, ich würde dahingehen, nach zwei Monaten würde ich fliessend Französisch. Tat ich nicht. Tue es immer noch nicht. Was aber sehr cool war, ich habe viele neue Begriffe und Ausdrücke gelernt, die ich zuhause nie gelernt hätte. Und das ist auch etwas Wert. Ausserdem war es mir irgendwann sehr egal, was und wie falsch ich alles sagte. Es hat einfach gesprochen. Ohne zu viel nachzudenken. Manchmal war es Französisch, manchmal auch etwas anderes. Aber die Menschen hatten mich verstanden. Und ich hatte sie verstanden. Auch ein Erfolg würde ich behaupten. Und die Französinnen und Franzosen waren immer höflich genug mir zu sagen “wie gut mein Französisch doch sei” (definitiv eine Lüge), also war mein Ego nie wirklich gekränkt. Was ich sagen kann, mein Französisch ist auf jeden Fall nicht schlechter geworden. Vermutlich sogar besser als zuvor. Vielleicht waren meine Ansprüche zu Beginn einfach zu hoch. Daher: Kann ich perfekt Französisch? Nein. Habe ich Französisch gelernt? Ja. War mein Austauschjahr ein voller Erfolg? “Évidemment.”

Die Telefonnummer (le numéro de téléphone) - Mir ist dennoch bewusst geworden, dass, egal wie gut ich Französisch lernte, es blieb immer eine unbezwingbare Endgegnerin: Die Telefonnummer. Ich war immer voll im Flow bis zu dem Moment, wenn der Mensch am anderen Ende der Leitung, oder mir gegenüber an der Theke, diese eine Frage stellte: “Wie ist Ihre Telefonnummer?” Es war unglaublich. Dieser eine Satz nahm mir innert Millisekunden die Fähigkeit mich auch nur auf die banalste Art und Weise auf Französisch auszudrücken. Es war, als wäre dieser Satz für alle französischen Worte in meinem Kopf ein Freifahrtschein zu verschwinden. “Puff, weg.” Und die kamen dann auch so schnell nicht wieder zurück. Ich glaube, ich hatte nicht ein einziges Mal meine Nummer vollständig vorgetragen. Wird vermutlich eine Erfahrung sein, die ich in meinem Leben nicht mehr machen werde. Was heisst hier nicht mehr. Nicht. Nicht machen werde. Fast so schlimm wie die Telefonnummern war der Wind. Der Wind war mein steter Begleiter. Immer an meiner Seite. In meinen Haaren. In meinem Gesicht. In meinen tränenden Augen. Ich glaube neben dem Rezitieren von Telefonnummern, werde ich den Wind am wenigsten vermissen.

Die Begegnungen (les rencontres) - Was ich dagegen vermissen werde, sind die Begegnungen, die ich während diesen zehn Monaten machen durfte. Manche waren nervig und unerfreulich. Die meisten jedoch waren wunderschön. Spannend. Lustig. Manche Begegnungen wurden zu Bekannten. Wurden zu Freundinnen. Zu Freunden. Zu einer kleinen Zweitfamilie. Diese Begegnungen werde ich für immer in meinem Herzen tragen. Manche Menschen werden für immer einen besonderen Platz darin behalten. Viele Freundschaften, die ich aufgebaut habe, sind deswegen so besonders, weil man genau das gleiche erlebt hat. Man war fremd in einem Land. Man war neu in einer Stadt. Man hat alles gemeinsam erlebt und gelernt. Man hat sich gegenseitig unterstützt. Und vor allem: man hat sich verstanden. Diese Gefühle, die manchmal so schwer greifbar waren, musste man nicht erklären. Man wusste immer genau, was die anderen durchmachten. Man baute sich eine Heimat auf, an einem Ort, der für alle nicht ganz zuhause war. Und ersetzte so das Heimweh mit Gemeinschaft.

Verloren und wiedergefunden (perdue et retrouvée) - Und auch wenn ich viele wundervolle Menschen kennenlernen und viele spannende Momente erleben durfte, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich oft ein bisschen verloren war. Am Anfang war ich komplett aufgeschmissen. Dann etwas weniger. Es wurde immer besser. Aber es gab immer Momente, in denen ich keine Ahnung hatte, was ich tat. Irgendwann lernte ich einfach damit umzugehen. Ich war verloren. Und ich musste eine gewisse Zuversicht darin finden, mich darauf einzulassen. Es würde schon gut gehen. Meistens tut es das sowieso. Und es ist auch in Ordnung sich selbst und anderen einzugestehen, dass man nicht alles im Griff hat. Dass man Fehler macht. Man kann nicht von Anfang an wissen, wie die Welt funktioniert. Man wird mehrere Anläufe brauchen, bei dem Chaos durchzublicken. Ein Schritt nach dem anderen. Ein Fehler nach dem anderen. Darauf vertrauend, dass wir dabei immer mehr dazulernen und irgendwann nicht mehr verloren durch die Gegend taumeln, sondern genau wissen, wo wir hinwollen. Wenn wir uns erlauben, den Weg in unserem Tempo zu gehen, ist die Chance umso grösser, dass wir uns am Ende da wiederfinden, wo wir hingehören.

Und um ehrlich zu sein, war dieses Austauschjahr für mich auch ein guter Grund, um einen möglichst grossen Umweg, weg von meinem Alltag, zu laufen. Einfach mal abhauen. Was aber nicht schlimm war, denn, wäre ich hiergeblieben, wäre ich vermutlich genauso verloren durch die Gegend geirrt. Vielleicht wäre es mir noch schwerer gefallen, da irgendwie durchzublicken. Ein bisschen Abstand tat mir gut. Und so sehr es auch nach einem Klischee klingt, hatte es meine Sicht auf viele Dinge wieder etwas klarer werden lassen. Nach diesem Abenteuer war ich dennoch froh wieder zuhause zu sein. Ich habe mein Leben in Frankreich genossen. Und Lyon wird für immer eine Liebe meines Lebens bleiben. Aber ich genoss es noch mehr, zuhause zu sein, trotz dem ganzen Chaos, das es noch zu beseitigen galt. Und ich wusste, das nächste Abenteuer würde kommen. Und ich würde es genauso freudig erwarten, wie das letzte. Aber eins nach dem anderen. Und zuallererst: “Zeit für einen neuen Teppich.”

Alles Liebe 

-Kayley 

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Eintrag 37: Woche 45 (Danke)