Eintrag 9: Woche 7 (Mässig bis wundervoll…)

 Liebe Alle

Wort der Woche: médiocre - mässig - (nette Form von schlecht) “Wenn etwas so mässig ist, dass man darüber lachen muss - bleibt es dadurch immer noch mässig, aber man hat wenigstens gelacht.”

Woche sieben. Wo soll ich anfangen. Annecy. Diese Reise war eine Erfahrung ich sag’s euch. Ich habe diesen Trip gebucht, als ich erst eine Woche in Lyon war. “Buche diesen Trip”, hiess es. “Das ist deine Chance, neue Freunde zu finden.” Da ich natürlich dachte, dass das mein einziger Weg ist, um Freunde kennenzulernen habe ich mich kurzerhand angemeldet. Natürlich habe ich auch nicht zwei Mal nachgedacht, weil ich dachte, wenn ich zu lange überlege, sind alle Plätze ausgebucht. Wenigstens habe ich mich mit einem Freund angemeldet. Das war eine weise Entscheidung, wie sich später zeigen sollte. Wochen später und ich habe meine Anmeldung bereut. Am Anfang war ich noch Feuer und Flamme neue Leute kennenzulernen. Jetzt ist meine Begeisterung, neuen Menschen zu begegnen eher auf Sparflamme. Ich habe Freunde und die mag ich sehr gerne. Lieber verbringe ich Zeit mit ihnen als noch mehr Menschen zu treffen und wieder allen zu erzählen was ich studiere, woher ich komme, wie lange ich hierbleibe und warum ich ausgerechnet Lyon ausgewählt habe… Aber ich habe mich angemeldet und viel wichtiger ich habe schon bezahlt. Also würde ich wohl oder übel an dieses Wochenende gehen müssen. Einziger Lichtblick: Drei Freunde kamen auch. Darauf freute ich mich. Also stellte ich mir vor, ich verbringe ein Wochenende mit Freunden. Und noch ein paar anderen Leuten, die zufällig auch da waren. Und wer weiss, vielleicht würde ich ja noch jemanden Neues kennenlernen. Ich beschloss, diesem Wochenende mit offenen Armen zu begegnen. Kommt nach Annecy, haben sie gesagt. Ihr zahlt zwar eine Menge Geld, ABER: Unterkunft, Verpflegung, Kajak fahren auf dem See, wandern in der schönen Berglandschaft, Party am Samstagabend, Stadtführung am Sonntagmorgen - alles inbegriffen. “Wenn das so ist, ist es mir das Geld wert”, dachte ich mir. Falsch gedacht. Am Freitagabend kam die erste Nachricht: “Packt gute Schuhe ein und vergesst euer Lunch nicht für den Samstagmittag, wir haben keine Zeit, um Essen zu kaufen.” “Wie bitte? Ich dachte, das Essen sei inklusive?”. Ich war nicht die Einzige, die verwirrt war und schon wurden die ersten Stimmen im Gruppenchat laut. Die Erklärung kam kurz darauf: Sie haben “Verpflegung” in Klammern geschrieben, da sie nicht sicher waren, ob sie die für uns zur Verfügung stellen können. Natürlich - ist ja logisch: wenn etwas in Klammern steht, bedeutet es eigentlich, dass es NICHT inklusive ist… Wie dumm von uns! Was mich mehr beunruhigte war der Teil mit dem zweistündigen Hike. Dann fiel mir wieder ein, dass ich schon einmal sechs Stunden Hike überlebte. Also kein Grund zur Sorge. Im Programm stand: Mittagessen mit einer wunderschönen Aussicht auf Annecy und den See. Das bedeutet in meiner Vorstellung, dass wir irgendwohin wandern, wo man am Ende hoch genug ist, um eine Aussicht zu haben… Ich montierte also meine Sportleggins, packte Essen für gefühlt drei Tage ein und schnürte die Schuhbändel meiner Puma-Sneakers im Doppelknoten. Ich war bereit. Samstag 6:30 verliess ich das Haus und ging zum Treffpunkt.

In Annecy angekommen warteten wir erst einmal eine Stunde im Eingangsbereich der Jugendherberge darauf, dass es endlich losging mit der Wanderung. Als es endlich so weit war, war ich kurz etwas verwirrt. Anstatt Richtung Berge liefen wir Richtung Wald. Aber statt im Wald liefen wir neben dem Wald auf der Strasse. Immerhin liefen wir bergauf. Da wir aber zu fünfzigst waren, mussten wir alle zwei Minuten anhalten, damit niemand verloren ging. Nach zehn Minuten Wanderung auf der Teerstrasse waren wir endlich auf dem Waldweg. Wir gelangten zu einer Lichtung. Kurze Trinkpause. Es war 11:00. Sie meinten wir laufen noch zehn Minuten, dann kommen wir zu einem wunderschönen Aussichtspunkt und werden da Mittagessen. Ich nahm mir fest vor mich noch nicht aufzuregen, da ich dachte vielleicht ist die Aussicht diesen mehr als enttäuschenden Spaziergang wert. Nicht das was ich erwartet habe, aber man sollte nie voreilig Situationen verurteilen. Ich schluckte also meinen Unmut herunter, setzte ein Lächeln auf und lief weiter durch den Wald. Bis jetzt haben wir nicht viel mehr gesehen als Bäume und Baustellen, wirklich eine Traumwanderung. Aber wie gesagt, vielleicht war es die Aussicht wert. Weiter ging’s. Nach fünf Minuten durch den Wald waren wir wieder auf der Strasse. Und liefen den Berg wieder runter Richtung See. Aussicht gab es keine. Mittagessen schon. Darf ich noch einmal kurz wiederholen, was im Programm stand: zwei Stunden Wanderung mit Mittagessen bei wunderschöner Aussicht auf Annecy und den See. Was haben wir gemacht? Zwanzig Minuten Spaziergang auf Teer mit Aussicht auf Bäume und Baustellen und Mittagessen am See. Immerhin, das mit dem See hat gestimmt. Und die Aussicht war gar nicht so schlecht. Bisschen was anderes. Bisschen enttäuschend. Einige von uns freuten sich immer noch auf das Kajaking am Nachmittag. Mir war schon klar, dass es kein Kajaking geben würde. Unsere Reiseführerinnen hatten selbst keinen Plan, was sie mit uns machen sollten, also gaben sie uns Freizeit. Toll. Wir kapselten uns zu sechst ab und machten unser eigenes Ding. Wir fuhren mit dem Pedalo über den See und gönnten uns ein Eis. Danach gab es Abendessen in der Jugendherberge. Da wir den ganzen Tag draussen in der prallen Sonne waren, viel gelaufen sind und dementsprechend hungrig waren, freuten wir uns, dass wenigstens das Abendessen inbegriffen war. Leider freuten wir uns wieder zu früh. Es gab Salat und Omelette für zehn Personen. Eigentlich ein gutes Menu. Wäre es ein Frühstück. Und wären wir zehn Personen gewesen. Leider war es das Abendessen. Und wir waren zu fünfzigst. Einer meiner Freunde wunderte sich, dass sie nach der Vorspeise (also nach der Omelette) die Teller und das ganze Besteck einsammelten. Wir mussten ihm leider sagen, dass das nicht die Vorspeise, sondern der Hauptgang gewesen war und er nichts mehr zu Essen bekommen würde. Sein Blick war, als ob gerade alle seine Träume sich in Luft auflösten. Und nicht nur sein Blick. Ich habe noch nie so viele leere Augen an einem Tisch gesehen. Blicke voller Verzweiflung und Fassungslosigkeit. In die Stadtführung am nächsten Tag hatte ich schon gar keine Hoffnung mehr gesteckt. Zu Recht. Wir liefen fünf Minuten in die Altstadt. Dann merkten unsere beiden Shooting-Stars, die Stadtführerinnen, dass es zu viele Menschen hatte (Sonntag ist Markttag in Annecy) und sie brachen die “Stadtführung” ab, bevor sie begonnen hatte. Wir bekamen wieder Freizeit. Ehrlich, ich hätte mich da vorne hinstellen können und irgendwas über Annecy erzählen können (das, was ich vor zwei Wochen im Gefängnis-Museum gelernt habe) und es wäre eine bessere Stadtführung gewesen. Ich denke, ich hätte den ganzen Trip besser durchführen können als diese beiden. Aber ich urteile nicht. Doch eigentlich schon. Dieses Mal war ich gar nicht mehr enttäuscht, weil ich gar nichts mehr erwartet hatte. Um ehrlich zu sein, fing ich an mich köstlich zu amüsieren. Kennt ihr das, wenn etwas so schlecht ist, dass es schon wieder lustig ist? Genauso war es. Das ganze Wochenende. Es war so schlecht. Aber statt uns aufzuregen, haben wir darüber gelacht. So oft wie das Programm gewechselt wurde, weil unsere Teamleaderinnen nicht wussten, was sie mit uns anstellen sollten, waren wir am Ende auch einfach zu verwirrt, um wütend zu sein. Grossartig. Gott sei Dank war das Wetter gut, stellt euch vor es hätte zu allem Übel noch geregnet. Wäre es ein Film gewesen, hätte es ganz bestimmt geregnet. Unsere kleine Freundesgruppe kapselte sich wieder ab und wir machten uns einen schönen Tag. Um das Essen mussten wir uns selbst kümmern (aber es stand ja auch in Klammern). Gut, dass ich für den Spaziergang am Vortag so viel Essen eingepackt habe, dass es noch für das Mittagessen reichte. Wenigstens konnte ich so etwas Geld sparen. Bei der Heimfahrt machten sie Werbung für zwei weitere Wochenenden mit derselben Organisation. Ich denke, ich werde da nicht hingehen. Mein Fazit: Organisation: mies. Okay sagen wir nicht mies - sagen wir mässig. Leitung: mässig. Essen: lecker aber mengenmässig: mässig. Wanderung: richtig mässig. Stadtführung: weniger als mässig. Kajaking: kein Kommentar. Begleitung: Highlight. Freizeit: Highlight. Kurz gesagt, alles, was nicht organisiert war, war super. Lässt man also die mässige Planung aussen vor, war es ein gemütliches Wochenende mit guten Freunden, in einem schönen Städtchen. Und ich habe zugegebenermassen schon auch ein paar nette Leute kennengelernt. Was will man mehr? Am Sonntagabend habe ich mir auf dem Weg nach Hause noch einen Burger gegönnt. Für meine überstrapazierten Nerven. Als ich nach Hause kam, schauten meine Mitbewohnerinnen “Keeping up with the Kardashians”. Ich erzählte kurz, wie mein Wochenende war und setzte mich dazu. Ich liebe das. Nach Hause kommen. Jemand ist da. Schaut fern. Man kann sich dazu setzen. Ab und zu gibt jemand einen Kommentar ab. Ganz entspannt. Einfach schön.

Den Montag widmete ich wieder der Waschmaschine. Und traf mich mit meiner Freundin zum Kaffee, um nach dem Wochenende wieder auf den neusten Stand zu kommen. Dienstags war wieder Bib angesagt. Und am Nachmittag gingen wir ausnahmsweise wieder mal in die Vorlesung. Urologie. Eigentlich gingen wir nur zur Vorlesung, weil wir gesagt haben, wir gehen danach Abendessen. Essen ist ein unglaublich guter Motivator. Am Mittwoch war wieder ein gemütlicher Tag. Am Abend war ich zu einer Soirée bei einer Freundin im Garten eingeladen. Es war richtig schön, mit Lichtern und Kerzen und Wein und gutem Essen. Ihr Vermieter (ein italienischer Physik-Professor) hat Spaghetti gekocht. Sehr nice. Der Abend war super. Donnerstag war wieder Tortilla-Night bei den Spaniern. (Dieses Mal gab es Linsen, aber ich nenne es trotzdem Tortilla-Night). Abendessen gab es erst um 22:30. Aber diese Abende sind immer unglaublich entspannt und eigentlich geht es auch nicht ums Essen, sondern um die Gesellschaft. Jede Woche aufs Neue wieder ein Highlight. Am Freitag habe ich die Wohnung geputzt. Mit meinen Freundinnen zu Mittag gegessen. Natürlich in der Mensa. Natürlich für 3.30 Euro. Man muss sparen, wo man kann. Danach ging ich das erste Mal in Frankreich zum Coiffeur. Unterwegs habe ich noch mit meiner Familie telefoniert. Also eigentlich mit meiner Schwester, die gerade mit meinen Eltern im Auto sass, woraufhin meine Eltern das Telefonat übernommen haben und ich meine Schwester nicht mehr hörte bis zum “Tschüss” am Ende des Gesprächs. Ich habe also eigentlich mit meiner Schwester telefoniert aber mit meinen Eltern geredet. Sie wollten schliesslich nur schnell hören, wie es mir geht, wenn sie mich schon mal am Hörer haben. Immer wieder schön ihre Stimmen zu hören. Zurück zum Coiffeur. Ich war schon etwas nervös. Ich will meine Haare wachsen lassen, also wollte ich so wenig wie möglich abschneiden. Ich versuchte ihr das auf Französisch zu erklären. Keine Ahnung ob mir das gelungen ist. Mir wurden die Haare gewaschen. Ich setzte mich auf den Stuhl und wartete. Dann kam sie zu mir und nahm die Schere in die Hand. Sie hob die Schere an, die Schere näherte sich meinem Kopf, die Klingen gingen auseinander und… ich bekam Panik. “Können wir nochmal kurz durchgehen, was Sie genau mit meinen Haaren machen?”. Ich hatte gar kein Vertrauen in diese Person. Sie wirkte nett, aber irgendwie war ich mir nicht so sicher, ob die mich mochte. Sie war gross und grimmig und wirkte etwas einschüchternd. Ich dachte ich werde alle meine Haare abgeschnitten bekommen. Etwas genervt hat sie mir noch einmal erklärt was sie machen wird und ich habe nicht ganz alles verstanden, mich aber nicht getraut, noch einmal nachzufragen. Jetzt war ich mir noch weniger sicher, ob sie mich mochte. Trotzdem überliess ich ihr das Schicksal meiner Haare und schloss meine Augen. Ehrlichgesagt, ich hatte etwas Angst vor ihr. Sie fing an. Kein Zurück mehr. Ich traute mich gar nicht hinzusehen. “Oh mein Gott. Bitte mach, dass ich diesen Salon mit Haaren verlasse.” Ich glaube eigentlich nicht an einen Gott aber in Momenten wie diesen, muss man alle Ressourcen mobilisieren. Im Verlaufe des Haarschnitts ist meine Friseurin etwas aufgetaut und ich glaube sie hat mich als Kundin akzeptiert. Ich habe gesehen, dass sie mir wirklich nur die Spitzen schneidet und sie hat gemerkt, dass ich sie nicht mehr mit unnötigen Fragen nerve. Wir werden keine Freundinnen, aber ich habe gegenseitigen Respekt gespürt. Am Ende bekam ich sogar ein kleines Lächeln geschenkt und meine Frisur sah gut aus. Wahrscheinlich werde ich trotzdem kein zweites Mal hingehen. Danach habe ich das Wochenende geplant. Ich erwarte Besuch von zu Hause. Eigentlich habe ich vor allem geplant, wo wir am Wochenende essen gehen. Und Tische reserviert. Um sicher zu stellen, dass wir das Essen, das ich geplant habe, auch bekommen werden. Essen ist wichtig. Und du bist mir sogar noch wichtiger. Ein kleines bisschen. Ich habe also Vorlesungen zusammengefasst, die Wohnung geputzt, Tische reserviert, eingekauft, war beim Friseur und habe Wäsche aufgehangen. Und dann war 18:30. Und dann warst du da. Und nach sieben Wochen konnte ich dich endlich wieder umarmen…

Alles Liebe,

-Kayley 

 

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