Eintrag 10: Woche 8 (Alles zu seiner Zeit)
Liebe Alle
Wort der Woche: le temps - die Zeit - “Manchmal müssen wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchen, um die Zeit zu geniessen, die wir haben.”
…und dann stehen wir am Sonntagabend wieder da und umarmen uns noch einmal, bevor du in dein Auto steigst und wieder gehst. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit anhalten. Nicht immer. Aber manchmal. Nach diesem Wochenende sind meine Gedanken so klar wie noch nie und gleichzeitig weiss ich weniger als je zuvor. Was nun?
Am Sonntagabend bin ich noch mit Freunden zum Rugby-Match gegangen. Frankreich gegen Südafrika. Es gab ein Public Viewing im Stadion. Die Stimmung war super. Ein bisschen wie ein Konzert. Mit Lichtern und Musik. Vorne ein riesiger Bildschirm, wo das Spiel übertragen wurde. Endlich konnte ich den Ball sehen. Das macht es um einiges leichter dem Spiel zu folgen. Ich muss mich hier etwas integrieren, also habe ich fleissig für Frankreich gejubelt. Das Ding ist, ich verstehe nicht wirklich viel von Rugby. Wenn man aber einfach das macht, was alle anderen machen, jubelt wenn alle jubeln, die Hände vors Gesicht schlägt, seufzt, klatscht, gespannt dem Geschehen folgt… Dann kommt man ganz einfach als Rugby-Fan durch. Ein bisschen wie schauspielern. Habe ich jetzt gelernt. Nichts besonderes, wenn man bedenkt, dass vermutlich etwa 50% der Anwesenden das genauso gemacht haben. Leider hat Frankreich nicht gewonnen. Das war etwas traurig. Die Stimmung war ziemlich gedrückt am Ende aber sie haben es sehr sportlich genommen. Ein letztes Mal, weil’s so schön war: “Allez les Bleus!”
Es ist Herbst geworden in Lyon. Die Tage werden kürzer, die Abende dunkler, die Sonne verabschiedet sich manchmal für ganze Tage und versteckt sich hinter grauen Regenwolken. Die Luft ist frisch, doch steht man in der Sonne fühlt man immer noch eine sommerliche Wärme. Die Bäume färben sich orange, verlieren langsam ihre Blätter und schenken uns einen wunderschönen Teppich, auf dem wir gehen können. Die Märkte sind gefüllt mit Pilzen und Kürbissen, in den Bäckereien duftet es nach Zimt. Ich liebe den Herbst. Ich liebe das Gefühl von Veränderung. Die Atmosphäre wird ruhiger, die Menschen verbringen mehr Zeit zuhause, in einen dicken Pulli gekuschelt vor dem Fernseher, eine Tasse Tee in der Hand. Schön. Diese Woche habe ich eine Nachricht erhalten, mit der ich nicht mehr gerechnet habe. Um ehrlich zu sein, es wäre für mich in Ordnung gewesen, hätte ich sie nicht erhalten. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet darauf zu antworten. Vielleicht aus Respekt. Vielleicht aus Gewohnheit. Vielleicht auch, um einen klaren Abschluss zu finden. Das Leben ist ständig in Bewegung. Wir bestreiten jeden Tag aufs Neue und es fühlt sich an, als würden wir keinen Schritt vorwärtskommen. Wenn man aber für einen kurzen Moment innehält und zurückschaut, erkennt man, was für eine Strecke man bereits zurückgelegt hat. Ohne es zu merken. Wir entwickeln uns mit jedem Tag ein bisschen weiter. Wir lernen jeden Tag etwas Neues dazu. Mit jeder Begegnung, mit jedem Erlebnis, mit jedem Gespräch. Ich habe diese Nachricht erhalten und wurde für einen kurzen Moment wieder ein paar Monate zurückgeworfen. Im nächsten Moment wurde mir aber bewusst, dass es mich nur zurückwerfen konnte, weil ich mich innerlich schon so weit davon entfernt habe. Ich habe damit abgeschlossen. Ich bin bereit, diesen Teil meines Lebens loszulassen. Er hat mich eine Weile begleitet und nun will ich meinen Weg ohne ihn weitergehen. So wie die Bäume im Herbst ihre Blätter dem Wind übergeben, werde ich diesen Teil meines Lebens ziehen lassen. Ich kann damit leben. Wie in der Natur, brauchen auch wir Menschen unsere Zeit, um zu wachsen, uns weiterzuentwickeln. Uns den Jahreszeiten des Lebens hinzugeben. Wir nähren unsere Blätter, halten sie der Sonne entgegen. Wir lassen unsere Blüten blühen. Wir ernten die Früchte unserer Errungenschaften. Wenn die Zeit gekommen ist, lassen wir die Blätter fallen, die uns nicht mehr dienen, damit wir uns voll auf das konzentrieren können, was unsere Energie und Aufmerksamkeit verdient hat. Und wir halten uns an die Gewissheit, dass wir in Zeiten des Frühlings und des Sommers erkennen, dass es sich gelohnt hat zu warten und darauf zu vertrauen, dass unsere Bemühungen nicht um sonst sein werden. Wir können nichts erzwingen. Es braucht einfach etwas Zeit. Und Geduld. Und Vertrauen.
Die Sache ist die, mit dem Vertrauen habe ich so meine Schwierigkeiten. Ich weiss manchmal nicht genau, ob ich meinen eigenen Gefühlen vertrauen kann. Meinen Gedanken. Meine Gedanken waren Jahre lang Meister darin, meine Gefühle zu überlisten. Ich habe mich so daran gewöhnt, mir selbst etwas vorzuspielen, dass ich heute immer noch Angst habe, meine Gefühle nicht richtig zu deuten. Ich habe immer noch Angst, wenn ich etwas denke, dass es nicht wahr ist. Ich bin dabei zu lernen, meine Gefühle zu lesen. Meinen Gefühlen zu vertrauen. Sie zu benennen, damit ich sie wiedererkennen kann. Ich lerne zu sehen, wenn ich selbst nicht ehrlich zu mir bin. Und ich lerne, mir zu glauben, wenn ich ehrlich bin. Ich werde mit jedem Tag ein bisschen besser. Ich vertraue meinen Gefühlen. Meinen Gedanken. Ich freue mich, dich zu sehen. Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Ich geniesse unsere Gespräche. Ich bin traurig, wenn wir frühmorgens das Telefon auflegen, weil wir nicht alle Zeit der Welt haben. Ich wünschte wir hätten alle Zeit der Welt. Ich habe immer noch ab und zu Gedanken, die mir sagen, dass das, was ich denke, nicht wahr ist. “Bist du dir sicher? Bist du ehrlich zu dir selbst?” Doch mit jedem Tag, werden diese Stimmen leiser. Mit jedem Tag wächst mein Vertrauen. Meine Sicherheit. Ich habe keine Angst mehr, davor, wie es sein wird in zwei Monaten. Sechs Monaten. Zehn Monaten. Ich kann nicht beeinflussen, wie ich mich dann fühlen werde. Ich kann nicht beeinflussen, wie du dich fühlen wirst. Ich kann aber darauf vertrauen, was ich jetzt fühle. Für diesen Moment. Und das sollte doch reichen, oder nicht? Wir müssen keine Entscheidung für die Zukunft treffen. Wir müssen eine Entscheidung für heute treffen. Mit jeder Entscheidung gewinnen wir Tage. Und die Tage werden zu Wochen, Wochen werden zu Monaten. Vielleicht sogar zu Jahren. (Keine Sorge, ich werde mich nicht weiter hineinsteigern). Sollte es so sein, freue ich mich darauf. Und wenn nicht, haben wir es wenigstens versucht. Und plötzlich haben wir doch alle Zeit der Welt. Solange wir uns dafür entscheiden.
Es ist Herbst geworden in Lyon. Ich packe mich in einen dicken Winterpulli, Mantel und Schal, meine Füsse stecken in meinen Regenstiefeln. Die Zeit der Harry-Potter-Filme hat wieder begonnen. Pünktlich zum Wetterumschwung habe ich eine Nachricht erhalten: “Dienstagabend: Harry-Potter-Night bei mir zu Hause. Bringt Essen. Butterbier steht bereit.” Das liess ich mir nicht zweimal sagen und ich freute mich riesig auf den Abend. Mit meinen frischgebackenen Zimtschnecken in der Hand lief ich los. Zum Abendessen gab es Kürbissuppe. Kann ich mal ganz kurz erwähnen, wie sehr ich den Herbst liebe, nur schon weil die Kürbisse, Pilze und Zwetschgen dieser Welt entschieden haben, dass das ihre Saison ist? Jedenfalls war das meine erste Kürbissuppe diesen Herbst und nur schon dafür hat sich dieser Abend gelohnt. Das Highlight war natürlich der Film. Eine Freundin hat sogar Popcorn mitgebracht. Sie ging in die Küche, um die Popcorns (die Popkörner? Die Popcorn? Was auch immer) zu kochen und wir setzten uns aufs Sofa und starteten den Film. Wir hatten tatsächlich jemanden in der Runde, die den Film noch nie gesehen hat. Ich wusste gar nicht, dass es wirklich noch solche Menschen gibt. Klar, man hört es ab und zu aber, dass wirklich jemand die Filme nicht gesehen hat? Verblüffend. Ich meine logisch, viele haben die Bücher nicht gelesen, aber die Filme nicht gesehen? Ich habe damals sogar Twilight geschaut, alle vier!, nur um mitreden zu können… Und um sagen zu können, dass es nicht so gut ist, wie die Harry-Potter-Filme. Aber das ist eine andere Diskussion. Ich war zwar verblüfft aber gleichzeitig fand ich es super, weil ich wusste, dass sie den Film zum ersten Mal schauen konnte! Was muss das für ein tolles Gefühl sein? Wie, wenn man zum ersten Mal in ein Stück Schwarzwälder Torte beisst oder zum ersten Mal einen Salto auf dem Trampolin landet. Wow, einfach toll! Als Hagrid auf dem Bildschirm erschien, gab es eine kurze Verwechslung: “Der alte Mann, Gryffindor, ist er nicht gerade gestorben?”. “Gryffindor ist ein Haus, kein Mann”, antwortete ich (obwohl streng genommen, das Haus wurde nach einem Mann namens Gryffindor benannt, aber das würde jetzt zu weit gehen. Sie meinte Dumbledore, den anderen alten Mann. Und sie hatte Recht, der Schauspieler von Dumbledore ist traurigerweise wirklich gerade gestorben). Aber, immerhin, sie wusste, dass Gryffindor etwas mit Harry Potter zu tun hat. Jetzt weiss ich, wo wir ansetzen können. Oh, ich freue mich! Nach zehn Minuten Film war ihr Fazit bereits, dass das ein toller Film ist (natürlich) und ich fühlte mich wie eine stolze Mama, deren Kind gerade die Kindergartenstafette gewonnen hat. Seufz. Leider war die Freude nur von kurzer Dauer und es begann leicht verbrannt zu riechen. Grauer Rauch entschwand der Küche und nahm das Wohnzimmer ein. Der Gestank wurde stärker… Die Popcorns! Die Popcorns (ich habe mich jetzt entschieden, dass das die Mehrzahl von “Popcorn” ist) waren verbrannt. Die Wohnung verraucht. Der Wohnungseigentümer sauer. Die Stimmung im Keller. Na ja, um ehrlich zu sein, fanden wir die Situation auch ein bisschen lustig. Wir entschieden uns dennoch im Kollektiv, dass es besser war, uns zu verabschieden und wir gingen nach Hause. Wir haben es gerade mal bis zur Winkelgasse geschafft. Traurig. Am nächsten Tag habe ich bei meiner Freundin nachgefragt und sie meinte ihr Vermieter hat ihr verziehen. Er hat sich nur etwas gewundert, dass wir schon so früh gegangen sind…
Am Donnerstagabend war wieder Tortilla-Night. Natürlich. So langsam ist dieser Abend, wie nach Hause kommen. Einmal in der Woche, sieht man alle bekannten Gesichter wieder, geniesst ein Abendessen und erzählt sich alles, was man gegenseitig verpasst hat. Ich freue mich jede Woche darauf. Freitagabend war es wieder mal Zeit in eine Bar zu hocken. Ich hatte schon lange kein Bier mehr. Butterbier zählt nicht. An den Abenden in der Bar sieht man immer wieder neue, alte Gesichter. Es haben nicht immer alle Zeit, aber es ist immer schön sich auszutauschen. Mal sind die weg, mal die anderen. Aber immer ist jemand da, um einem Gesellschaft zu leisten.
Es ist Herbst geworden in Lyon. Die Abende werden dunkler. Die Tage kürzer. Ich geniesse das Wochenende in vollen Zügen. Ich laufe am Markt den Ständen entlang. Das Orange der Kürbisse leuchtet mit den vereinzelten, warmen Sonnenstrahlen um die Wette. Ich wärme mein Gesicht in der Sonne. So lässt es sich leben. In der Stadt sind sie schon dabei, die Weihnachtslichter aufzuhängen. Bald beginnt sie. Die schönste Zeit des Jahres. Die Weihnachtszeit. Aber erst geniesse ich noch ein bisschen den Herbst. Was haben wir gelernt? Alles zu seiner Zeit.
Alles Liebe
-Kayley