Eintrag 5: Woche 3 (Eins nach dem anderen)
Liebe Alle
Wort der Woche: la lumière - das Licht - “Vergiss nie, das Licht reinzulassen.”
Am Sonntag habe ich an einer Schatzsuche durch Lyon teilgenommen. Mit den anderen Erasmus-Studenten meiner Uni. Es war der gefühlt heisseste Tag (diesmal wirklich) seit meiner Ankunft in Lyon und wir wurden durch die ganze Stadt gejagt. Hurrah. War aber schlussendlich lustiger als erwartet und nach dem ich zweimal fast verdurstet wäre, sind wir am Ziel angekommen und haben uns danach erst mal ein Bier gegönnt. Mein Alkoholkonsum geht hier echt durch die Decke.
Was noch? Diese Woche hat die Uni offiziell angefangen! Und ich muss sagen, ich habe das komplett unterschätzt! Das System in Frankreich ist ganz anders als in der Schweiz. Die Studierenden lernen anhand von Büchern. Pro Fach gibt es ein Buch auswendig zu lernen. Ich belege in diesem Semester vier Fächer, das bedeutet bis Ende Jahr kann ich vier Bücher auswendig – oder so. Das sind ungefähr 1200 Seiten (pro Semester). Als ich das am Montag realisierte, habe ich mich zum ersten Mal, seit ich in Lyon angekommen bin, gefragt: Was mache ich hier eigentlich? Habe ich schon erwähnt, dass diese Seiten auf Französisch geschrieben sind? Ich habe in dieser einen Woche Studium in Lyon schon mehr Zeit in der Bibliothek verbracht als in drei Jahren Studium in Basel. Entweder ist meine Arbeitsmoral unglaublich gestiegen oder der Druck hat zugenommen. Oder beides. Es ist gerade mal die erste Woche des Semesters und die Studierenden hier sind von 08:00 früh bis 08:00 am Abend in der Bib (studentisch für Bibliothek) am Lernen. So schlimm ist es in Basel nicht mal in der Lernphase (Kann ich nicht zu 100% bestätigen, weil ich die Bib in der Lernphase noch nie von innen gesehen habe, aber ich wollte meinen Punkt mit einem guten Vergleich unterstreichen). Ich bin echt überwältigt von dieser Disziplin… In Frankreich werden die Studierenden in einem Ranking aufgelistet – damit man immer schön sehen kann wer am besten abschneidet. Kein Wunder sind die den ganzen Tag am Lernen. Von dieser Arbeitsmoral versuche ich mir auch ein Stückchen abzuschneiden und verbringe nun erstaunlich viel Zeit in der Bib. Zum Mittagessen geht’s in die Mensa. Ich sage euch das Essen ist gar nicht so schlecht und für 3.30 Euro das Menu, mit Vorspeise und Dessert, kann man echt nichts daran aussetzen. Diese Tatsache macht das Uni-Restaurant unglaublich beliebt und man muss länger für sein Mittagessen anstehen als im Europapark für die Euro-Mir. Minus die nice Musik zum anstehen. Dumdum dum dum dumdum dum dum (Könnt ihr’s hören? Ich hoffe euch läuft jetzt das Euro-Mir-Lied den ganzen Tag hinterher – gern geschehen). Dafür darf man länger als zwei Minuten im Esssaal bleiben. Guter Kompromiss.
In den nächsten Zeilen wird’s ein bisschen ernster, ich hoffe ihr verzeiht mir. Diese Woche hatte ich viel Zeit, um nachzudenken. Mein Gehirn ist öfters mal abgeschweift beim zusammenfassen meiner Vorlesungen. Sorry, aber das ist echt anstrengend alles auf Französisch zu lesen. Ich bin hier unglaublich glücklich. Es macht mir Spass, neue Leute kennenzulernen und mich in einem neuen Land zurechtzufinden. Ich liebe es, zu wissen, dass ich hier Besucherin auf Zeit bin. Ich kann ein Teil von dieser Stadt sein und so viele Eindrücke wie nur möglich sammeln. Ich fühle mich unglaublich frei. Frei, das zu tun, was ich will. Jedenfalls in der Zeit, die mir neben meinem Vorhaben 1200 Seiten (pro Semester) auswendig zu lernen, noch bleibt... Es ist anstrengend, diese Flut an neuen Eindrücken zu verarbeiten. Ich merke nach diesen drei Wochen, wie meine soziale Batterie so langsam gegen null geht. Ich spüre, wie mein Bedürfnis nach dem allein sein stärker wird. Mein introvertiertes Ich ist langsam etwas erschöpft. Es ist schwierig eine Balance zu finden, zwischen dem Bedürfnis mit Menschen eine Verbindung aufzubauen, der Angst etwas zu verpassen und der Schuld, die man spürt, wenn man mal zu etwas Nein sagt. Nach dem Motto, wenn ich schon mal hier bin, muss ich es auch geniessen und nicht nur im Apartment herumhocken. Andererseits bin ich für 10 ganze Monate hier, ich habe also alle Zeit der Welt. Ich denke, ich mache mir wieder viel zu viele Gedanken, statt einfach mal auf mich selbst zu vertrauen. Mein Körper weiss am besten, was gut für mich ist. Mein Kopf muss das nur noch etwas lernen.
Doch das zu lernen, ist gar nicht so einfach. Diese Woche habe ich das erste Mal seit ich hier bin etwas anderes als Freude empfunden. Neben der ganzen Freude gibt es auch Momente, in denen ich mich traurig und orientierungslos fühle, ohne zu wissen warum. Es gibt Momente, in denen ich von einer Zeit eingeholt werde, in der es mir nicht gut ging. Ich werde wieder in diesen Zustand hineinkatapultiert und ich habe grosse Schwierigkeiten meinen Weg hinauszufinden. Es ist, als wäre ich in einem dunklen Raum eingesperrt und würde mich selbst durch ein Fenster beobachten. Ich sitze im Dunkeln und kann mich selbst durch die Scheibe sehen, wie ich im Lichtschein mit den anderen am Stammtisch sitze. Mein ultimatives Bild von einer glücklichen Gesellschaft. Ich kann sehen, wie ich mit den Menschen interagiere, wie ich Spass habe. Ich kann sehen, wie ich Teil der Gruppe bin. Doch ich kann es nicht fühlen. Es ist, als wäre ich nicht mehr verbunden. Nicht mehr mit den anderen Menschen. Nicht mehr mit mir selbst. Ich schlage gegen die Scheibe und rufe so laut ich kann, doch niemand kann mich hören. Niemand kann mich sehen. Ich wünsche mir nichts lieber als aus der Tür zu laufen und mich an den Tisch zu setzen. Doch die Tür ist verschlossen und niemand kommt, um mich zu holen. Nicht aus Böswilligkeit. Sondern weil sie nicht wissen, dass ich eingesperrt bin. Alles, was sie sehen, ist, wie ich mit ihnen in ihrer Runde sitze und mich mit ihnen amüsiere. Diese Einsamkeit, die man spürt, obwohl man in Gesellschaft ist, ist für mich das schlimmste Gefühl, das ich kenne. Das Gefühl, nichts zu fühlen. So als ob man vergessen hat, wie es geht. Und niemand kann einem auf die Sprünge helfen. Es sind diese Momente, in denen ich mich frage, ob das die richtige Entscheidung war. Ich frage mich, ob ich das wirklich durchziehen kann. Und dann fällt mir ein, dass ich – egal wo ich bin – immer da sein werde. Denn, auch wenn ich in ein anderes Land gezogen bin, ich selbst bin immer noch dieselbe Person, wie vor dem Umzug. Meine Laster sind immer noch die gleichen, meinen Ballast werde ich weitertragen. Ich muss lernen damit umzugehen, ob ich nun in der Schweiz bin oder in Frankreich. Ich muss lernen, dass nicht alle Tage nur Sonnenschein und Leichtigkeit sein können. Ich muss aber auch lernen, dass die schweren Tage nicht unendlich sind. Sie sind da, das kann ich nicht ändern. Sie sind beängstigend, auf jeden Fall. Ich werde mich an manchen Tagen einsam fühlen, ohne Zweifel. Doch für alle schlechten Stunden gibt es auch gute Stunden. Darauf muss ich vertrauen. Glücklichsein kommt nicht von heute auf morgen, es ist ein Prozess. Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Man macht Fortschritte und Rückschritte. Nachdem ich so viele Fortschritte geniessen konnte, die letzten Monate, hat mich dieser Rückschritt etwas kalt erwischt. Es hat ein bisschen gedauert, mich darauf einzustellen. Ich werde versuchen, mir selbst noch etwas Geduld zu schenken. Ich werde merken, dass die Tür des dunklen Raumes, in dem ich eingesperrt bin, nicht verschlossen ist. Ich werde merken, dass ich, mit etwas Hilfe von aussen, die Türe öffnen kann und ins Licht treten kann. Ich werde sehen, dass ich ein Teil der Runde sein kann. Dass ich nie aufgehört habe, ein Teil davon zu sein.
Diese Woche war es schwierig meine Gefühle einzuordnen. Einerseits fühle ich mich wie ein Kind im Freizeitpark, dass sich unglaublich freut und jeden Winkel entdecken und jede Süssigkeit ausprobieren will. Alles ist neu und aufregend. Andererseits wird mir auch bewusst, dass ich nicht immer nur glücklich sein kann. Das ich auch Gefühle in mir trage, die nicht nur positiv sind. Dass es auch Momente gibt, in denen ich nachdenklich bin, mich am liebsten unter der Decke verkrieche und mich zurückziehe. Nach der ganzen anfänglichen Euphorie, die ich spürte, bin ich jetzt das erste Mal auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen. Ich glaube es ist mir zum ersten Mal, seit ich hier bin wirklich bewusst geworden, dass ich noch eine Weile hierbleiben werde. Dieses Gefühl, diese Trauer, die ich fühle und nicht richtig einordnen konnte. Ich glaube dieses Gefühl ist Heimweh. Ich vermisse mein Zuhause. Ich vermisse meine Familie. Ich vermisse meine Freunde. Ich vermisse es am Abend aus deinem Fenster zu schauen und die Sterne zu beobachten. In der Stadt verblassen die Sterne. Ich vermisse es, mit euch im Park zu sitzen und bis Mitternacht Wein zu trinken und einfach nur zu reden. Ich vermisse es, in fünf Minuten bei euch vor der Tür stehen zu können. Ich vermisse es mit euch nach dem Essen noch eine Runde Kartoffel zu spielen. Ich vermisse es, am Sonntagmorgen mein Dreiminuten-Ei zu essen, auch wenn ich nicht das “Egg of the day” bin. Ich vermisse es einfach ins Wohnzimmer laufen zu können und mir eine Umarmung von meiner Familie abzuholen. Ich vermisse es eure Stimmen zu hören. Es hat etwas befreiendes, Menschen kennenzulernen, die nicht meine ganze Lebensgeschichte kennen. Noch schöner ist es aber, mit jemandem reden zu können, ohne sich erklären zu müssen. Das vermisse ich.
Gestern Abend war ich zum ersten Mal auf einer Soirée. Eigentlich wurde ich einfach zum Essen eingeladen und jeder hat etwas mitgenommen. Und ich bin in Frankreich. Also Soirée. Es gab den leckersten französischen Käse und zum Hauptgang hat uns eine Freundin aus Sardinien authentische, italienische Pasta gekocht. Mega lecker! Ich sass da am Tisch und wusste, dass in der Schweiz genau zur selben Zeit meine Freunde den Geburtstag einer meiner besten Freundinnen feiern. Einerseits war ich glücklich neue Freundschaften zu schliessen und neue Erinnerungen zu machen. Andererseits war ich auch etwas wehmütig nicht bei meinen Freunden in der Schweiz sein zu können. Das ist auch in Ordnung. Das ist mir diese Woche bewusst geworden. Ich kann glücklich und traurig sein zur gleichen Zeit. Ich kann mich auf die Zukunft freuen und gleichzeitig etwas Angst davor haben. Ich kann die Gesellschaft anderer geniessen und trotzdem auch ab und zu zufrieden sein, einen Abend allein zu verbringen. Ich kann mich über neue Freunde freuen und gleichzeitig meine Freunde zuhause vermissen. Ich kann nicht steuern, was ich fühle, aber ich kann steuern, wie ich damit umgehe. Ich kann mir erlauben, mich vollkommen nach meinen Bedürfnissen zu richten. Ich kann mir selbst Zeit geben, mich auf diese neue, aufregende Situation einzulassen und mich erst einmal richtig einzuleben. Und ich kann mir selbst zugestehen, nicht immer nur glücklich sein zu müssen. Neue Situationen sind immer aufregend. Neue Situationen wecken die Vorfreude. Sie machen aber auch Angst. Angst und Vorfreude sind ziemlich nahe beieinander. Also versuche ich mich mehr auf die Freude und weniger auf die Angst zu konzentrieren. Denn Freude macht definitiv mehr Spass als Angst. Daran werde ich mich erinnern, wenn ich wieder einmal Zweifel habe.
Und dann sind da noch meine Eltern. Ich habe ihnen am Telefon erzählt, dass ich einen Durchhänger habe. Sie kommen nächste Woche auf Besuch, am Mittwoch. Natürlich haben beide sofort vorgeschlagen, schon früher zu kommen, um mir Gesellschaft zu leisten und mich aus meiner Misere zu befreien. Sie sind momentan gerade in Spanien und als wir telefonierten, waren sie unterwegs zum Restaurant. Zu Fuss. Im Sturm. Und haben Pläne geschmiedet, wie sie schneller bei mir sein können. Vor lauter Pläne schmieden, haben sie natürlich das Restaurant verfehlt. Nur schon mit Ihnen zu telefonieren und zu wissen, dass sie für mich da sind, hat viel geholfen. Danach habe ich mit meinen Geschwistern telefoniert. Mit dir. Es hat unglaublich gut getan vertraute Stimmen zu hören, vertraute Gesichter zu sehen. Ich muss nicht alle Kriege selbst austragen. Ich habe genug Menschen, die an meiner Seite kämpfen. Ich muss sie nur anrufen. Das weiss ich jetzt. Diese Woche habe ich sehr viel gezweifelt, bin in manchen Situationen auch verzweifelt. Aber bei einer Sache bin ich mir sicher: ich wünsche jedem Menschen eine Familie wie meine. Eltern, wie meine. Sie sind die besten, ohne Zweifel. Übrigens, sie haben das Restaurant dann doch noch gefunden. Ich hoffe, das Essen hat geschmeckt.
Alles Liebe
-Kayley