Eintrag 25: Woche 28-30 (Frühling)
Liebe Alle
Wort der Woche: le printemps - Frühling - “Es ist Frühling geworden.”
Ich bin wieder zurück in Lyon. Und dieses Mal werde ich auch eine Weile bleiben. Ich hatte das Gefühl ich lebte in zwei Welten. Ich war an zwei Orten zu Hause und gleichzeitig auch an keinem. Ich fuhr ständig hin und her. Ich fand keine Ruhe. Die letzten zwei Monate waren stressig. Irgendwie. Und auch gar nicht. Ich hatte drei Wochen Lernphase, dann drei Wochen Ferien. Dann wieder sechs Wochen Praktikum und dann wieder eine Woche Pause. Ich hatte viel zu tun und dann wieder wenig. Gar nichts. Was mir fehlte, war Konstanz. Was mir fehlte, war eine Routine. Ich glaube das ist es, was ich am Studieren am schwersten finde. Eine Routine aufrechtzuerhalten. Dranbleiben, auch wenn einem niemand über die Schulter schaut. Auch wenn es niemanden interessiert, wie viele Tage du gelernt hast, wenn du am Ende die Prüfungen bestehst. Ich war also wieder zurück in Lyon und nahm mir drei Dinge vor: Eine Routine zu schaffen. Mich darum bemühen, gesund zu bleiben und mich im Gym blicken zu lassen. Ein bisschen Bewegung würde mir sicher nicht schaden.
Woche eins zurück in Lyon war ich immer noch so müde vom vielen schlafen, dass ich genau das tat: Schlafen. Schlafen und zuhause bleiben. Ich war auch nicht einkaufen. Ich blieb einfach zuhause. Ich gab mir Zeit, um wieder anzukommen. Ich ass Schokolade zum Abendessen und Pasta zum Frühstück. Damit kann man es schon ein paar Tage überleben. Ich habe so viel geschlafen, dass nicht mehr so viel Zeit für anderes blieb. Ich habe meine Unisachen sortiert und mit den Vorlesungen begonnen. Am Mittwoch habe ich es das erste Mal aus dem Haus geschafft. Ich habe mich mit einer Freundin zum Gym verabredet. Aus dem Haus UND eine Freundin getroffen. Wir gingen schlussendlich nicht ins Gym sondern in ein Café – aber ich war trotzdem stolz auf mich. Wie war das nochmal? Eins nach dem anderen. Am Donnerstag habe ich es geschafft einzukaufen. Am Freitag besuchte mich eine Freundin aus der Schweiz. Wir erkundeten die Stadt, assen gut, tranken gut, genossen die wenigen Sonnenstrahlen, die sich am Sonntag zeigten. Ich freue mich jedes Mal, wenn jemand auf Besuch kommt. Einerseits ist so mein ganzes Wochenende durchgeplant mit Aktivitäten, gutem Essen und guter Gesellschaft und ich entdecke jedes Mal aufs Neue wieder wunderschöne Ecken dieser Stadt, die ich noch nicht gekannt habe. Andererseits gibt es mir ein bisschen Heimat. Ein bisschen Anschluss an das, was sich zuhause in der Schweiz abspielt.
Woche zwei in Lyon hat begonnen und am Montag machte ich erst einmal einen Grosseinkauf mit meiner Mitbewohnerin zusammen. Am Mittwoch habe ich mich wieder mit meiner Freundin fürs Gym verabredet. Und dieses Mal sind wir tatsächlich gegangen. Ich hatte diese Woche einen unglaublichen Energieschub, das musste ich ausnutzen. Am Dienstag ist mein “Gotti” auf Besuch gekommen. Sie fuhr extra für einen Abend nach Lyon. Das schätze ich sehr. Wir haben gemeinsam sehr lecker zu Abend gegessen und uns lange unterhalten. Ich liebe die Unterhaltungen mit ihr. Ich liebe es, sie um Rat zu bitten. Sie nach ihrer Meinung zu fragen. Sie gibt mir immer eine neue, spannende Sicht auf die Dinge. Und auch immer ein klein wenig Zuspruch, dass ich eigentlich auf einem gar nicht so schlechten Weg bin. Ich fühle mich immer besser nach dem ich sie gesehen habe. Wie eine liebevolle Umarmung, die einen noch einige Tage begleitet. Am Mittwoch trafen wir uns noch zum Kaffee, bevor sie wieder Richtung Schweiz losfuhr. Das Wetter war traumhaft. Die Sonne lässt sich mittlerweile immer öfters blicken. Diese Woche schaffte ich es drei Mal ins Gym – ein voller Erfolg. Zudem habe ich mich mit meinen Freundinnen zum Lernen in der Bib verabredet. Ich glaube ich komme langsam aber sicher wieder in meine Routine zurück. Um ehrlich zu sein habe ich in diesen zwei Wochen nicht viel mehr gemacht als Essen, Kochen, Schlafen, Trainieren und mich ein, zwei Mal mit Menschen getroffen, die ich sehr gerne mag. Und es geht mir bestens. Ich habe mir bewusst Zeit für mich selbst genommen. Um meine Tage nach meinen Bedürfnissen zu planen und zu leben. Ich werde sicher auch wieder das Bedürfnis nach sozialen Kontakten haben und dann werde ich das auch machen. Aber im Moment habe ich das Bedürfnis allein zu sein. Oder meine Zeit mit Menschen und Aktivitäten zu füllen, die mir Energie geben. Im Moment lebe ich nur für mich. Ich kann machen, was ich will. Wann ich will. So lange ich will. Und das werde ich ausnutzen. Solange ich noch kann. Diese zwei Wochen haben mir gezeigt, dass ich sehr gerne allein bin. Und ich bin auch gerne mit Menschen zusammen. Wenn es die richtigen sind.
Am Freitagabend war ich mit meinen Mitbewohnerinnen in einer Bar zum Tanzen. Meine Mitbewohnerin hat noch ein paar Freunde eingeladen. Ich genoss es mit meinen Mitbewohnerinnen unterwegs zu sein, aber in der Bar war es laut und es fiel mir schwer mit den anderen zu reden, geschweige denn zu verstehen, was sie mir sagten - also sass ich auf meinem Stuhl und hörte der Musik zu. Dann tanzten wir ein bisschen, aber die Tanzfläche war so klein und die Menschen so tanzwütig, - was ich eigentlich super finde - dass ich dann mehr rumgeschubst wurde als zu tanzen. Was mich auch nicht wirklich bereicherte. Ich entschloss mich etwas zu tun, was ich noch nie getan habe. Ich entschloss mich, zu gehen. Ich fühlte mich unwohl, ich war müde und ich merkte, dass diese Situation viel zu viel unnötige Energie forderte. Und ich fragte mich: “Was will ich wirklich?” Die Antwort war leicht. “Ich will in meinem Bett liegen und schlafen.” Also habe ich mich verabschiedet, allen einen schönen Abend gewünscht und bin gegangen. Und habe genau das getan, was ich eigentlich wollte. Mich in mein Bett gelegt und geschlafen. Und es hat sich gut angefühlt. Am Samstagmorgen bin ich um 8:30 aufgestanden, ging zum Markt und war gerade rechtzeitig zurück, bevor es in Strömen anfing zu regnen. Früh aufstehen ist nicht immer schlecht. Um 14:00 habe ich all meine Vorlesungen für den Tag fertig bearbeitet. Ich ging in die Stadt und machte ein paar Besorgungen. Ich fühlte mich grossartig. Am Abend machte ich mir einen entspannten Abend, kochte etwas zu essen und schaute einen Film. Ich habe es einfach genossen, allein zu sein. Am Sonntag bin ich allein ins Gym gegangen. Ich war zwei Stunden im Gym. Nicht weil ich mich exzessiv ausgepowert habe. Nicht, weil ich möglichst viele Kalorien verbrennen wollte. Ich habe auch viel Pause gemacht. Ich habe es genossen, weil niemand da war. Ich hatte Platz für mich. Ich nahm mir Zeit mit meinem Workout. Ich habe alles mögliche ausprobiert. Ich habe gemacht, was mir Spass machte. Ich habe mich erinnert, dass ich eigentlich Freude daran habe, mich zu bewegen. Dass ich es mag, mich herauszufordern. Neues auszuprobieren. Ich muss mir nur Zeit nehmen. Und ich muss in Stimmung sein. Vermutlich gibt es Tage, an denen es mich grässlich ankotzen wird. Es gibt für alles eine Zeit. Aber grundsätzlich macht es mir Spass. Also sollte ich mir vielleicht öfters erlauben, Spass zu haben. Ein Weg, um meinem Hirn wieder beizubringen, dass Sport nicht die Feindin ist. Sport ist meine Freundin.
Woche drei zurück in Lyon hat begonnen. Es ist Frühling geworden. Die Vögel zwitschern schon eine Weile ihre Lieder. Die Sonne ehrt uns jeden Tag ein bisschen länger mit ihrer Anwesenheit. Manchmal wird sie abgelöst von einem kleinen Regenschauer. Die Welt sieht wieder etwas freundlicher aus. Die Menschen sind wieder draussen. Meine Haare sind endlich wieder lange genug, um sie in einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Ich habe seit einer Woche keine Mütze mehr getragen. Ich habe meine Winterjacke offiziell im Schrank verstaut. Meine Wolldecke liegt daneben. Es ist Frühling geworden in Lyon. Als ich ankam, war Hochsommer. Dann kam der Herbst. Dann der Winter. Jetzt ist es Frühling geworden. Die letzte, der vier Jahreszeiten. Ich liebe diese Veränderungen. Ich liebe es, zu beobachten, wie sich die Umwelt fast unmerklich ändert und plötzlich blühen die Blumen, die Bäume, man trägt keine dicken Pullis mehr, keine Mützen, man hat fast automatisch die Winterjacke im Schrank hängen lassen und die Winterstiefel in Turnschuhe umgetauscht. Genauso wie die Umwelt habe auch ich mich verändert. Fast unmerklich, doch jeden Tag ein kleines bisschen. Es geht nicht darum, ein gewisses Endziel zu erreichen. Es geht darum, in Bewegung zu bleiben. Man kann nicht erwarten, dass sich alles über Nacht ändern wird. Man kann nicht erwarten, dass man alles auf einmal schaffen kann. Aber man kann in Bewegung bleiben. Das heisst nicht, dass man sich an allen Tagen gleich schnell bewegt. Vielleicht bewegt man sich manchmal auch rückwärts. Vielleicht fällt man hin. Vielleicht macht man drei Schritte auf einmal. Vielleicht braucht man ein paar Tage Pause. Vielleicht will man auch einfach einmal stillstehen. Wichtig ist, dass man danach wieder weitergeht. Und es versucht. Und irgendwann schaut man auf den Weg zurück und merkt, dass man vor lauter Bewegung - ganz unmerklich - einen Riesensprung gemacht hat. Veränderung kommt immer, solange man in Bewegung bleibt. Beinahe über Nacht. Es ist Frühling geworden in Lyon. Nicht nur in der Stadt, auch in meinen Gedanken. Ich geniesse die Sonne, die Leichtigkeit, das Leben. Und ich freue mich auf diese letzte Jahreszeit in meinem Auslandsjahr. Es gibt noch viel zu entdecken. Noch viel zu sehen. Noch viel zu erleben. Und ich werde versuchen, das so bewusst wie möglich zu geniessen. Nach dem Frühling kommt der Sommer und auch wenn ich den noch hier verbringen werde, wird es für mich im Sommer auch wieder Zeit nach Hause zu gehen. Bis dahin verbringe ich die Zeit im Café, bei einem guten Matcha. Im Park, bei einem schönen Spaziergang. In einem Quartier, das es noch zu entdecken gibt. Mit Freunden, die ich zu schätzen gelernt habe. Mit meinen Mitbewohnerinnen, die meine kleine Ersatzfamilie geworden sind. Mit Wochenenden mit meinem Freund, die nicht oft genug sein können. Mit Telefonaten und Besuchen von zuhause, damit ich meine Liebsten nicht allzu sehr vermisse. Im Krankenhaus, wo ich einiges lernen kann. Mit meinen Vorlesungen, die ich mir merken sollte. Und damit, möglichst viel Französisch zu sprechen. Oder zumindest zu lesen. Und hoffentlich zu lernen. Denn das ist eigentlich der Grund, warum ich hier bin. Also werde ich mal damit anfangen. Und damit ich mich auf das konzentrieren kann, was ich hier alles noch erleben und erlernen will, werde ich vielleicht nicht mehr so viel schreiben. Vielleicht werde ich auch mehr schreiben. Ich weiss es nicht. Aber falls ihr nicht mehr so viel zu lesen bekommt, seid nicht traurig. Ich kann es euch dann irgendwann persönlich erzählen. Im Sommer oder so.
Alles Liebe
-Kayley