Eintrag 24: Woche 27 (Loslassen)

Liebe Alle

Wort der Woche: lâcher - loslassen - “Lass los.”

Zuhause angekommen, erwartete mich meine Familie, Sushi (plus Lasagne und Tiramisu vom Vorabend – es musste echt mein Glückstag sein) und ein Gesellschaftsspiel, das meine Familie sich neu zugetan hatte. Nach dem Essen spielten wir eine Runde. Hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt ich würde mit meinen Eltern und meinen Geschwistern ein Spiel spielen, indem es darum geht Wörter für Pornotitel, Sexstellungen und dergleichen zu finden, wäre ich vermutlich im Boden versunken. Vielleicht gibt es auch einige da draussen, die sich fremdschämen würden. Mittlerweile schätze ich, dass wir miteinander so offen umgehen können. Wir hatten den Spass unseres Lebens. Wir sind alle Menschen. Und wir können damit umgehen. Und wir können gemeinsam lachen. Ich glaube, das ist das Wichtigste.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, ging es mir hundeelend. Ich habe bei meinem Freund übernachtet und fühlte mich, wie überfahren. Eigentlich hatten wir geplant, einen Ausflug zu machen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Er hatte sich dafür extra frei genommen. Stattdessen blieben wir zuhause und er kümmerte sich den ganzen Tag um mich. Ich fühlte mich sehr gut aufgehoben bei ihm und gleichzeitig fiel es mir schwer, seine Fürsorge anzunehmen, ohne mich schuldig zu fühlen, dass ich uns den Tag versaute. Dennoch war ich froh, dass er da war. Ich verbrachte die ganze restliche Woche auf dem Sofa und schaute den ganzen Tag irgendwelche Serien oder döste vor mich hin, weil mir für etwas anderes die Energie fehlte. Ich bin nicht gerne krank. Ich glaube niemand ist gerne krank. Aber was mir jedes Mal Angst macht, wenn ich krank bin, ist die Tatsache, dass ich keine Energie habe. Ich kenne das Gefühl keine Energie zu haben. Ich habe das Gefühl sehr lange mit mir herumgetragen. Mein Körper kann nicht unterscheiden zwischen, “ich habe keine Energie, weil mein Körper krank ist” und “ich habe keine Energie, weil meine Seele krank ist”. Deswegen fühlt es sich für mich genau gleich an. Es fühlt sich für mich genauso an, wie es sich angefühlt hat, als meine Seele krank war. Und deswegen habe ich jedes Mal aufs Neue wieder Angst, dass diese Energielosigkeit nicht wieder weg geht. Ich habe jedes Mal Angst, dass sie bleibt. Ich kann ja nicht im Vorhinein wissen, dass ich in ein paar Tagen wieder fitter werde und wieder Energie tanken kann und meine Welt wieder weniger grau aussieht. Und ich nicht mehr den ganzen Tag auf der Couch liegen muss, weil es dann meinem Körper wieder besser geht und er sich einfach ein paar Tage ausruhen musste. In diesen Momenten fühlt es sich an, wie eine endgültige Tatsache. Wie ein Zustand, der so schnell nicht wieder geht. Es fühlt sich an, als wäre meine Seele wieder krank, obwohl es eigentlich mein Körper ist, der eine Pause braucht. Und ich kann nichts tun, als diese Tage der Energielosigkeit abzusitzen und zu hoffen, dass mein Körper sich wieder erholt und ich meine Energie zurückbekomme. Ich kann nur abwarten und hoffen, dass meine Seele tapfer bleibt und sich nicht mitreissen lässt. Ich kann nur abwarten und mir immer wieder versichern, dass es dieses Mal mein Körper ist. Auch wenn ich nie sicher sein kann, bis es überstanden ist. Ich bin nicht gerne krank. Weil ich an diesen Tagen nichts tue ausser zu denken. Zu warten. Zu fühlen. Weil ich an diesen Tagen am meisten daran erinnert werde, wie es sich angefühlt hat, als es meiner Seele schlecht ging. Weil ich an diesen Tagen damit konfrontiert werde, was ich sonst immer mit genug Sicherheitsabstand von mir fernhalten kann. Weil es für meine Seele anstrengender ist, wenn mein Körper die ganze Energie in Anspruch nimmt. Wenn ich dieses Tief endlich überwunden habe, bin ich umso erleichterter auf der anderen Seite wieder rausgekommen zu sein. Mit jedem Funken Energie, den ich zurückbekomme, kann ich ein bisschen leichter atmen und ein bisschen besser schlafen. Mit jedem Funken Energie, den ich zurückbekomme, kann ich mich vergewissern, dass es mir gut geht. Ich weiss nicht ob das für irgendjemanden Sinn macht, aber so fühlt es sich für mich an, krank zu sein.

Am Sonntag ging es mir endlich wieder einigermassen besser, mein Gesicht hatte wieder seine ursprüngliche Form angenommen (es war komplett geschwollen und rot) und meine Familie feierte Weihnachten. Erinnert ihr euch noch daran, dass wir Weihnachten verschieben mussten? Ja? Diesen Sonntag war es so weit! Meine Verwandten waren auf Besuch und wir liessen es uns gut gehen. Wir hatten einen wundervollen Tag. Nach sieben Stunden Familienfeier fuhr ich mit meinem Freund zu ihm nach Hause und wir liessen den Tag entspannt ausklingen. Ich habe mir meine Woche Ferien etwas anders vorgestellt. Etwas mehr draussen als auf dem Sofa. Aber ich habe meine Familie gesehen, einen grossen Teil meiner Familie und ich habe meinen Freund gesehen. Ich habe viel geschlafen. Ich habe viel nachgedacht. Ich habe viele Erkenntnisse gesammelt. Und noch wichtiger, es ging mir langsam wieder besser. Am Montag machte ich mich auf den Weg zurück nach Lyon. Ich kaufte mir ein Buch am Bahnhof und las. Ich las den ganzen Heimweg. Ich las die fünfzig Minuten, die ich in Mulhouse warten musste, weil der Zug vierzig Minuten Verspätung hatte. Ich las im Zug. Ich las, als ich in Lyon ankam. Ich las…

…Und ich glaube der Knoten ist geplatzt. Ich habe endlich etwas realisiert, was ich schon lange mit mir herumgetragen habe. Ich habe mich immer gefragt, warum mein Kopf so lange brauchte, um zu verstehen, was mein Körper ihm so lange zu sagen versuchte. Ich habe einfach nicht richtig zugehört. Ich habe nicht verstanden. Vermutlich hatte ich auch einfach Angst, was passieren würde, wenn ich endlich innehalten und wirklich ehrlich annehmen würde, was ich so lange versucht habe zu verdrängen. Ich war gut. Ich war immer schon gut. Ich war gut in der Schule. Gut im Turnen. Eine gute Tochter. Ich war gut mit Menschen. Ich war gut. Ich war gut darin, gut zu sein. Jedenfalls meine Definition von "gut”. Ich mochte es, gut zu sein. Ich wollte gut sein. Und dann habe ich angefangen zu glauben, dass, wer zu offen zeigt, dass sie gut ist und es auch weiss, dass sie gut ist, schnell als Angeberin abgestempelt wird. Und Angeberinnen sind nicht gut (wieder meine Interpretation von “gut”). Also habe ich mich dezent zurückgenommen und versucht möglichst wenig aufzufallen. Bescheidenheit. Zeige, dass du gut bist, aber gebe niemals jemandem das Gefühl schlechter zu sein. Konzentriere dich nicht zu sehr auf dich. Wer nur auf sich selbst schaut, ist egoistisch. Egoistisch ist schlecht. Ich mochte es gut zu sein. Ich habe angefangen, mir vorzustellen, was es bedeutete gut zu sein. Mein Konzept von “gut sein”, beinhaltete auf andere zu achten. Gut sein bedeutete, sich nicht zu wichtig zu nehmen. Gut sein bedeutete, keine Probleme zu machen. Eigentlich ein gutes Konzept, nur leider dachte ich, dass ich immer und überall dieses Konzept erfüllen musste. Und das ist, wie ich irgendwann auch verstanden habe, auf Dauer nicht möglich. Aber bevor ich das verstanden habe, war ich überzeugt, ich kann. Ich wollte niemandem eine Last sein. Und meine Definition von “keine Last sein”, bedeutete “gut sein”. Also habe ich stets darauf geachtet, nur Gutes zu erzählen. Nicht sauer zu sein. Nicht zu viel von mir preiszugeben, was andere nicht mögen könnten. Allgemein nicht zu viel über mich zu reden. Ich habe sorgfältig daran gearbeitet, dass niemand etwas Schlechtes über mich sagen konnte. Nicht meine Familie. Nicht meine Freunde. Nicht meine Mitschüler. Ich hatte solche Angst, nicht gut zu sein und somit andere zu belasten, dass ich alles daransetzte, gut zu bleiben. Die Erwartungen zu erfüllen. Besonders die Erwartungen an mich selbst. Ich habe so sehr darauf geachtet gut zu sein, dass ich dachte, es müsse mir auch gut gehen. Also ging es mir immer gut. Ich habe nie darüber geredet, wie es mir wirklich ging, sondern stets gesagt, dass es mir gut geht. Wenn es mir gut geht, gibt es kein Problem. Wenn es kein Problem gibt, ist es gut. Bin ich gut. Das Einzige, was ich nicht beeinflussen konnte, war, wie mich die Jungs in der Schule fanden. Und Tag ein Tag aus sah ich zu, wie sie jemand anderes besser fanden. Du bist nicht gut genug. Es war das erste Mal, dass ich mit diesem Gefühl konfrontiert wurde. Ich war noch nie “nicht gut genug”. Niemand will dich. Dieses Gefühl war schrecklich. Bis mich jemand wollte. Er gab mir das Gefühl “gut genug” zu sein. Also schwor ich mir, ich werde gut sein. Ich wollte nicht, dass er oder irgendjemand wieder denken könnte ich bin nicht gut genug. Ich wollte unbedingt, dass man über mich sagte, wie wundervoll und hingebungsvoll ich bin. Wie nett. Wie freundlich. Wie gütig. Wie intelligent. Wie selbstlos. (Alles Dinge, die in meinem Kopf als “gut” galten). Ich hatte solche Angst, dass jemand schlecht über mich denken könnte, dass ich versuchte, eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. Ich habe versucht, vorherzusagen, was andere von mir erwarteten und dann versucht, diese Erwartungen zu erfüllen, damit ich allen zeigen konnte, wie gut ich bin. Wie selbstlos. Ich habe so sehr versucht, es allen zu zeigen, dass ich genau das wurde. Selbstlos. Selbstlos bedeutet nämlich nichts anderes, als seine eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Als gäbe es kein selbst mehr. Kein selbst - keine Belastung (für andere). Ich habe mich selbst vernachlässigt. So fest, dass ich mich selbst verloren habe. Weil ich eine wichtige Sache vergessen hatte. Meine eigenen Erwartungen. Und nicht die Erwartungen, die ich dachte, die ich habe. Nein, meine wahren Erwartungen. Meine wahren Bedürfnisse. Ich habe mich immer gefragt, was andere von mir wollen könnten, dass ich vergass zu fragen, was ich will. “Bin ich glücklich?” “Was will ich wirklich?” “Sind meine Bedürfnisse gerade eine Priorität für mich?” Ich war so sehr damit beschäftigt, wie ich nach aussen wirke, dass ich vergessen habe, in meinem Inneren nachzuschauen, was ich wirklich brauchte. Ich habe vergessen auf die wichtigste Person in meinem Leben zu schauen. Ich habe vergessen, dass ich nicht gut sein muss. Ich muss nicht gut sein für die anderen. Ich muss auch nicht gut sein für mich. Ich muss eigentlich gar nichts. Ich darf. Ich darf auf mich selbst hören. Ich darf mich ausschliesslich dafür interessieren, was ich brauche. Ich darf in mich hineinhorchen und genau das tun, was in dem Moment für mein Selbst nötig ist, damit ich für mich da sein kann. Ich darf eine Belastung sein. Ich habe viel zu lange die Stimme erstickt, die mir versucht hat zu sagen, was ich schon längst wusste. “Es geht dir nicht gut.” “Du bist nicht glücklich.” “Du gibst zu wenig acht.” “Du willst das nicht mehr.” “Du stellst deine Bedürfnisse viel zu weit hinten an.” “Hör endlich zu!” “Hör endlich auf!” “Lass mich nicht im Stich!” “Lass mich nicht noch mehr verschwinden!” Die Stimmen in meinem Inneren wurden immer lauter, bis sie irgendwann sogar von aussen zu hören waren. Die Menschen um mich herum begannen zu sehen, was ich so lange versucht habe, zu verstecken. Ich war müde. Ich war erschöpft. Ich hatte keine Energie mehr. Mein Körper hat mich gezwungen, zuzuhören. Ich habe endlich aufgehört, zu versuchen gut zu sein. Ich habe versucht, zu sein. Ich habe endlich ausgesprochen, was ich wollte. Und ich habe endlich losgelassen. Ich habe so lange an einem Selbst festgehalten, von dem ich dachte, dass ich sein musste, um “gut genug zu sein”. Ich habe so schmerzlich versucht, alle und vor allem mich selbst von dieser Version von mir zu überzeugen. Und ich bin gescheitert. Ich habe so lange festgehalten, bis ich nicht mehr konnte und gezwungen war loszulassen. Und es war das Beste, was ich bisher in meinem Leben getan habe. Ich fange langsam wieder an mein Innerstes zu spüren. Ich fange an, mir zu überlegen, was ich will und nicht was ich denke, was andere wollen, dass ich will. Ich war eine Meisterin im “gut sein”. So sehr, dass ich verlernt habe “Ich zu sein”. “Ich sein”. Ich arbeite jeden Tag daran, zu werden. Um irgendwann zu sein. Es fällt mir immer noch schwer, aber ich lerne jeden Tag dazu. Ich lerne jeden Tag, mehr in mich hineinzuhorchen. Einfach still zu sein und meine innere Stimme lauter werden zu lassen. Zuzuhören. Ich muss nicht gut sein. Ich darf gut sein. Aber ich darf auch schlecht sein. Was auch immer das sein mag. Ich darf leise sein. Langweilig. Interessant. Schwierig. Direkt. Lustig. Traurig. Fröhlich. Laut. Ruhig. Unruhig. Ungeduldig. Unfreundlich. Freundlich. Gierig. Grosszügig. Ich kann nicht immer alles sein. Ich kann auch nicht immer gut sein. Für manche mag ich scheisse sein. Für andere wundervoll. Ich bin für jeden das, was er in mir sehen will. Und ich weiss jetzt, dass ich das nicht beeinflussen kann. Ich kann es auch nicht ändern. Ich kann es nicht vorhersagen. Ich kann aber damit leben. Es fällt mir zwar immer noch schwer. Aber ich kann daran arbeiten. Ich kann beeinflussen, wie es mir dabei geht, wenn andere eine Meinung über mich bilden. Ich kann steuern, welche Meinung mir wichtig ist, welche Meinung ich mir zu Herzen nehme, welche Meinung mir am Arsch vorbeigeht und welche Meinung mir schmeichelt. Die Wichtigste Meinung ist aber die Meinung, die aus meinem Innersten kommt. Und damit meine ich nicht, die Worte, die sich mein Kopf zurechtlegt, weil er wieder irgendwelche Erwartungen an mich hat oder Vergleiche zu anderen zieht oder Bewertungen über mich verfasst. Es ist das Gefühl, das ich habe, wenn ich nachts einschlafe. Es ist das Gefühl, das ich habe, wenn ich morgens aufwache. Es ist das Gefühl, das ich habe, wenn ich in den Spiegel schaue. Es ist das Gefühl, das ich habe. Und ich will diesem Gefühl treu bleiben. Ich will ehrlich sein. Ehrlich und aufrichtig. Ich will das Gefühl annehmen und versuchen, danach zu handeln. Ich habe so lange so fest an meinen Erwartungen und Gedanken festgehalten, (vermutlich hatten sie eine Zeit lang eher mich im Griff), dass es mir immer noch schwerfällt, loszulassen. Und jeden Tag habe ich die Stimme meines Bruders im Kopf, der mir sagt “Loh los”. Ich weiss nicht, woher er das hat, aber es ist das Weiseste, was ich jemals gehört habe. Wenn ich wieder in meinen Gedanken gefangen bin und vor lauter Chaos nicht mehr fühlen kann, dann denke ich “Lass los”. Wie ein Mantra, dass mich jeden Tag begleitet. “Lass los.” Und ich lasse los. Ich atme. Ich fühle. Ich werde. Ich bin. Und der Rest kommt von allein.

Ich weiss in diesem letzten Abschnitt habe ich vermutlich öfter das Wort “gut” geschrieben, als etwas anderes. Aber ich denke genau das beschreibt, wie sehr ich mich von diesem Wort habe beeinflussen lassen. Fast schon kontrollieren lassen. Dieses Wort hat mich so lange begleitet und ich habe mich so lange danach gerichtet. Es war mein kleines Gefängnis. Mein eigener metaphorischer Käfig. Und ich bin froh, habe ich endlich den Schlüssel gefunden.

Alles Liebe

-Kayley

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