Eintrag 21: Woche 24 (Das übliche auf und ab)
Liebe Alle
Wort der Woche: ensemble - zusammen - “Zusammen ist man weniger allein.”
Ich bin auf dem Markt angekommen und als erstes zum Gemüsestand gelaufen. Ich war schon relativ spät dran, daher waren gerade nicht viele Leute da. Dieses Mal wurde ich von meinem Markfreund höchstpersönlich bedient. Ich nahm mir einen vorbereiteten Korb mit Salat (bei dem er noch einen halben Salat draufpackte) und das übliche Gemüse. Dann streckte er mir etwas entgegen. “Das ist für dich”, meinte er. “Vom ganzen Team.” Ich habe im ersten Moment gar nicht verstanden, was er mir gegeben hat. ““Les oreillettes” - mach es auf”, sagte er. “Ein typisches Gebäck für diese Jahreszeit.” In der Tüte war ein Gebäck, dass mich an die “Fasnachtschiechli” in der Schweiz erinnerten. Ich musste sofort an zu Hause denken. Ich habe mich sehr über das Geschenk gefreut. “Das ist sehr freundlich von Ihnen”, meinte ich. “Menschen, die freundlich sind, begegnen wir auch mit Freundlichkeit”, antwortete er. Das werde ich mir merken. Ich bedankte mich bei ihm und fuhr weiter mit meiner Gemüsebestellung. “Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen, ich habe mir langsam Sorgen gemacht. Ich bin froh, dass es dir gut geht”, sagte er mir noch zum Abschied. Auch wenn er es vermutlich zu den meisten seiner Kunden sagt, hat mich diese kleine Aufmerksamkeit sehr gefreut. Ich habe mich gesehen gefühlt. Ich weiss nicht, ob ihr wisst was ich meine. Als ob man nicht allein ist auf der Welt. Diese Begegnung hat mir wirklich den Tag versüsst. Eine kleine Geste kann manchmal viel ausmachen. Zum Glück habe ich es aus dem Bett geschafft. Den restlichen Samstag habe ich gemütlich zu Hause verbracht. Am Abend gingen wir noch auf eine Crêpe-Festival. Klingt toller als es war. Eigentlich wollte ich gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Ich wollte gemütlich zu Hause bleiben und entspannen. Dann dachte ich, ein Crêpe-Festival gibt es nicht alle Tage. Ich sollte mal etwas rauskommen. Ich sollte nicht immer zu Hause rumsitzen. Hätte ich lieber auf mein Bauchgefühl gehört. Es war nicht lustig. Wir mussten eine halbe Stunde auf unsere Crêpes warten – schlussendlich habe ich nicht mal einen genommen, weil meine Bestellung nicht funktionierte – und die Musik war so laut und unangenehm, dass wir nach einer Stunde wieder nach Hause fuhren. Ein voller Erfolg. Das hat mir wieder gezeigt, dass man nicht immer überall dabei sein muss. Man darf auch mal einfach zu Hause bleiben. Jetzt weiss ich es fürs nächste Mal. Am Sonntag blieb ich dann wirklich zu Hause und erledigte den Haushalt. Ich habe mich am Abend so erfolgreich gefühlt, weil ich die Wohnung geputzt habe. Manchmal muss man auch die kleinen Erfolge mitnehmen. Nach dem Putzen versuchte ich mir einige wichtige Informationen zum Thema Neurologie einzuprägen, weil am Montag mein “Stage” in der Neurologie anfangen würde. Wieder neue Leute, eine neue Station, ein neues Thema. Um ehrlich zu sein, freute ich mich auch mal wieder auf die Vorlesungen. Ohne soziale Wagnisse, ohne sich auf Neues einstellen zu müssen. Sondern einfach nur ich und mein Buch in der Bibliothek, wo niemand mit einem reden durfte. Eine schöne Vorstellung. In drei Wochen. Drei Wochen.
Am Montag ging es los auf der Neurologie. Ich kam an und war natürlich wieder die erste. Die “Externes” (die anderen Medizinstudentinnen) haben mich direkt gut aufgenommen, mir alles erklärt und mit mir alles organisiert. Ich habe mich direkt gut aufgehoben gefühlt. Ein guter Start. Ich hatte zwar noch keine Ahnung wie alles genau funktionierte und noch weniger Ahnung von den Pathologien (Beschwerden), die die Patienten mitbrachten, aber es war ja auch mein erster Tag. Ich würde mich schon zurechtfinden. Ich lief wieder den anderen hinterher. Darin war ich langsam Meisterin. Hinterherlaufen, warten, zuschauen. Mein tägliches Brot im “Stage”. Ein Traum. Dennoch war es spannend, wieder in ein neues Thema einzutauchen. Am Nachmittag waren wir im Büro der “Internes” (Assistenzärzte) und bereiteten den Eintritt vor, als “er” reinkam. Ein gutaussehender, sportlicher Oberarzt, schwarze Haare hoch gegelt, dunkelblaue, perfekt zugeschnittene Arztkleider (wie sie die Ärzte in Amerika tragen), Stethoskop lässig um den Hals gelegt, ein Lächeln auf den Lippen – ich dachte für einen kurzen Moment “Derek Shepherd” steht vor mir. Alle die “Grey’s Anatomy” schauen, wissen von wem ich spreche. Habe ich schon gesagt, dass ich in der Neurologie war? Ich meine sogar die Fachrichtung stimmte. Abgesehen davon, war er auch sehr nett. Er war auch der einzige, der mir in die Augen schaute wenn er in der Runde etwas sagte. Das ist etwas, womit ich immer noch zu kämpfen habe. Wenn wir zu dritt (Assistenzarzt, “Externe” und ich) dastehen und einen Patienten besprechen, dann redet der oder die Assistenzärztin nur mit der oder dem französischen Externe. Ich stehe daneben und höre zu, werde aber kein bisschen beachtet. Ich weiss, sie machen es nicht mit Absicht und ich sollte es auch nicht persönlich nehmen. Dennoch ist es nicht so angenehm, wenn man bei einem Gespräch dabei ist, bei dem man keine Sekunde beachtet wird. Das kratzt an meinem Ego. Und ich fühle mich wie eine unsichtbare Fliege an der Wand. Nicht wirklich ernst genommen. Ich versuche mich dann durch Fragen ins Gespräch einzubringen aber das ist gar nicht so einfach. Vielleicht wird sich das noch ändern. Würde meinem Selbstvertrauen gut tun. Na ja, wenigstens redete “Derek Shepherd” mit mir.
Ich blieb bis ungefähr 17:00 Uhr und machte mich dann auf den Heimweg. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich gross überansprucht habe, dennoch wurde mir auf dem Heimweg plötzlich alles zu viel. Ich weiss nicht, ob es eine schlechte Stimmung war oder ob mich das Praktikum einfach viel Energie kostete. Ich hatte das Gefühl ich würde erdrückt werden. Als ob ich nicht mehr atmen könnte. Ich fühlte die Panik in mir aufsteigen und ich wusste nicht einmal warum. Ich war einfach überwältigt. Ich wollte mich einfach nur in mein Bett verkriechen und nicht mehr aufstehen. Eine Freundin fragte, ob ich mit ihr einen Kaffee trinken wollte nach der Arbeit. Ich wollte. Aber ich wollte auch nicht. Es fühlte sich an wie die anstrengendste Aufgabe der Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen noch länger unterwegs zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen mit noch einer Person zu reden. Mich aktiv zu unterhalten. Ich dachte nur daran, wie anstrengend das werden würde. Mein ganzer Körper wehrte sich gegen die Vorstellung noch einen Abstecher zu machen. Mein realistisches Ich wusste, dass es nur ein Kaffee war. Nur eine Freundin. Nur eine halbe Stunde. Nur ein Spaziergang. Es war noch hell. Es war noch früh. Es war nicht das Ende der Welt. Meine Angst sagte mir, dass ich es nicht schaffen würde. Man kann diese Gedanken nicht steuern. Sie kommen unangekündigt. Sie setzen sich fest und bringen ein Gefühl mit. Eine Schwere. Ein Unbehagen. Es kommt, bevor man sich dagegen wehren kann. Niemand will sich so fühlen. Und wenn man in diesem Strudel ist, muss man sich anstrengen, um da wieder rauszukommen. Um den rationalen Teil wieder übernehmen zu lassen. Um sich dagegen zu wehren. Es ist nur ein Kaffee keine Doktorarbeit. Nur ein Kaffee. Mittlerweile kann ich ganz gut erkennen, wenn meine Angst überhandnimmt und ich weiss auch, dass ich etwas dagegen tun kann. Es ist dennoch nicht immer einfach umzusetzen. Es ist nicht immer einfach, sich selbst klarzumachen, dass man ganz bestimmt genug Kraft hat, um einen Kaffee zu trinken. Dass man sich gut fühlen wird, wenn man mit jemandem reden kann. Dass es guttut, an der frischen Luft zu spazieren. Das man die Sonne auf seiner Seite hat. Und man gibt alles, um sich aus dem Strudel zu befreien und sich zu überwinden “Ja” zu antworten. “Wo treffen wir uns?”, zu schreiben, statt “Sorry, keine Zeit.” Und dann einfach zu machen. Einfach zu gehen. Der Rest kommt von allein. Ein Kaffee. Eine Umarmung. Ein gutes Gespräch. Ein wenig Gesellschaft. Sonne. Frische Luft. Und es geht einem besser. Die Anspannung löst sich. Der Druck lässt nach. Die Atmung fällt einem leichter. Das ungute Gefühl wird schwächer. Es ist vielleicht noch nicht ganz verflogen. Das geht nicht immer so einfach weg. Aber es ist leiser geworden. Die Gedanken kreisen langsamer, verstummen. Sie schweben nur noch vereinzelt im Raum und machen Platz, lassen langsam den Frieden wieder durchscheinen. Manchmal braucht man jemanden, der einen daran erinnert, dass man nicht allein ist mit seinen Gedanken. Dass man sich gegenseitig helfen kann. Dass es Menschen gibt, die einen auf dem Weg begleiten können. Und wer weiss. Vielleicht ist dieser jemand auch froh über ein bisschen Gesellschaft. Als ich an dem Abend nach Hause fuhr, sah die Welt schon viel freundlicher aus.
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag war mehr oder weniger das gleiche. Ich ging zum “Stage”, dann zum Sport (habe ich schon erwähnt, dass ich ein Fitness Abo habe?) und dann nach Hause für einen gemütlichen Abend. Am Freitag kamen zwei meiner besten Freunde/Freundinnen auf Besuch. Ich freute mich riesig. Ich hatte noch “Stage” und hatte natürlich noch nichts vorbereitet zu Hause. Sie haben sich auch erst um 21:00 Uhr angekündigt, also machte ich mir keine Sorgen. Ich hatte noch genügend Zeit, wenn ich vom “Stage” nach Hause kam. Am Nachmittag schrieb mir meine Freundin, dass sie doch schon auf dem Weg waren und vermutlich um 18:00 Uhr ankommen würden. Ich rechnete noch eine halbe Stunde drauf (Verkehr und so) und dachte dennoch: “Oh, doch nicht mehr so viel Zeit, um vorzubereiten.” Na gut. Hoffentlich würde ich noch genügend Zeit haben, um wenigstens staubzusaugen. Ich war um 17:00 Uhr zu Hause und machte einen “Turboputz” durch die Wohnung. Um 18:00 schrieb ich meiner Freundin, ob sie schon sagen könne, wann sie in etwa ankommen würden. Dann könnte ich vielleicht noch kurz duschen gehen. “Wir sind in zwei Minuten bei dir”, antwortete sie. “Doch nichts mit duschen”, dachte ich. “Wir sind da!” Ich öffnete das Fenster, lehnte mich raus und winkte ihnen zu. “Komme!” Ich schloss das Fenster und lief nach draussen, um sie zu begrüssen. Das würde ein grossartiges Wochenende werden. Da war ich mir sicher.
Alles Liebe
-Kayley