Eintrag 16: Woche 14-18 (Ein Jahr geht zu Ende)
Liebe Alle
Wort der Woche: la gratitude - die Dankbarkeit: “Seid dankbar für alles, was euer Leben bereichert.”
Ihr werdet es kaum glauben, aber es ist immer noch Silvester. Ich versuche meine sechs Wochen Abwesenheit wieder wett zu machen. Was jetzt folgt, ist eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse im Dezember. Ich hoffe ihr verzeiht mir die etwas weniger detailreiche Ausführung. (Dafür müsst ihr nicht so lange lesen).
Der Dezember begann mit meiner letzten Praktikumswoche auf der Endokrinologie. Der Chefarzt war etwas furchteinflössend und ich weiss nicht wieso das manche Männer immer noch machen, aber wenn ihr mit einer Frau redet, hört auf, ihr auf die Knie zu fassen. Das ist unheimlich und unnötig und bringt niemandem etwas. Also bitte, liebe Menschen (ich weiss, es gibt vermutlich auch genug Frauen, die Männern zu nahe kommen und Menschen, die Menschen zu nahe kommen, also spreche ich hier alle Menschen an): Es gibt Grenzen, die muss man nicht überschreiten. Und dazu gehört, dass man mit jemandem sprechen kann, ohne irgendwelche Körperteile anzufassen. Besonders wenn ihr 20 Jahre älter seid als euer Gegenüber und nicht zur engsten Familie gehört. Danke. Also dieser Chefarzt war etwas beängstigend und er sah nicht aus als wäre er besonders geduldig. Also war ich schon grundsätzlich gestresst, wenn er mit mir sprach. Dazu kam, dass ich schon einen gewissen Grundstress spürte, weil ich nie genau wusste, ob ich alles verstand, wenn jemand mit mir Französisch sprach. Das bedeutet ich war maximal gestresst, wenn er mit mir redete und ich habe vermutlich noch weniger verstanden als normal. Er kam also eines Morgens gehetzt ins Büro, fragte uns (einen Assistenzarzt aus Saudi-Arabien, der kein Wort Französisch sprach und mich), ob wir uns impfen lassen wollten. Stellt euch nun meinen gestressten Gemütszustand vor und ihr könnt euch denken, dass ich “Ja” gesagt habe. Ich traute mich einfach nicht “Nein” zu sagen. Der Assistenzarzt übrigens auch (der war genauso maximal gestresst wie ich). Im nächsten Moment habe ich meine Entscheidung bereits hinterfragt, da eine Impfung gegen Corona vermutlich nicht viel bringt, wenn man die Woche zuvor Corona hatte. Aber da gab es kein zurück mehr. Der Chefarzt dachte sowieso schon ich bin völlig verblödet, ich konnte jetzt nicht mehr meine Meinung ändern. Nach einer kurzen Risikoabwägung kam ich zum Schluss, dass es das kleinere Übel war, jetzt einfach durchzuziehen. Ich blieb also bei meiner Entscheidung und rannte dem Chefarzt hinterher, um ihn ja nicht aus den Augen zu verlieren, weil ich sonst irgendwo in diesem Krankenhaus verloren gehen würde. Krankenhäuser sind die eigentlichen Labyrinthe dieser Erde. Ärzte können aber auch nicht gemütlich laufen. Egal. Natürlich mussten wir auch noch das Gebäude wechseln um den Weg noch länger und mühsamer zu machen und natürlich regnete es auch noch in Strömen. Wieder mal ein guter Tag. Im Impfflügel angekommen (komisches Wort ich weiss), mussten wir zwei Fragebögen ausfüllen. Einen für die Grippeimpfung, einen für die Corona-Impfung. Die Hälfte der Fragen drehte sich darum, ob man in den letzten Tagen krank war. “Hatten Sie in den letzten sieben Tagen Corona?” “Waren Sie in den letzten sieben Tagen krank?” “Hatten Sie in den letzten sieben Tagen Kontakt mit einer Person, die Corona hatte?” Wohlwissend, dass ich letzte Woche Corona hatte, beantwortete ich alle Fragen selbstbewusst mit “Nein”. Tolle Idee. Aber ich hatte einfach zu viel Angst zu kneifen. Da musste ich jetzt durch. Vermutlich brachte die Impfung nicht viel, aber schaden würde es auch nicht. Hoffentlich. Ich setzte mich auf den Stuhl und während links und rechts je eine Impfung in mich hinein gepflanzt wurde, hinterfragte ich einige meiner Lebensentscheidungen. Wenigstens war ich jetzt für die Grippesaison gewappnet. Doppelt hält besser. Oder so. (Und nur so nebenbei, ich war seither nicht mehr krank.) Empfehlen würde ich es trotzdem nicht. Ich sollte echt lernen, gezielter “Nein” zu sagen. Vielleicht beim nächsten Mal. Als wir fertig waren, und es mir nach zehn Minuten immer noch gut ging, war der Chefarzt natürlich schon verschwunden. Ich suchte zusammen mit dem Assistenzarzt den Weg zurück zur Abteilung. Im Regen. Ich freute mich noch nie so sehr auf ein Ende, wie auf das Ende dieses Praktikums. Am Abend ging es mir immer noch gut und ich war immer mehr überzeugt, dass ich vermutlich keinen Schaden davontragen werde. Immerhin etwas. In der nächsten Woche begann der Teil, den man als Studentin am meisten fürchtet. Die Lernphase. Lernen von früh bis spät, Stress, und keine ausgewogene Mahlzeit für die nächsten Wochen. Ich bewundere echt alle Studierenden, die während der Lernphase kochen und zum Sport gehen. Meine Ernährung beschränkte sich auf das Minimum an Aufwand. Koffein und Schokolade wurden mein Lebenselixier. Zum Glück war in meinem Adventskalender so viel Schokolade. Danke an dieser Stelle an den Verantwortlichen.
Anfang Dezember erreichte mich eine Nachricht, von der ich gehofft habe, dass sie nie kommen würde. Jemand in meinem Umfeld ist gestorben. Und obwohl ich nicht viel Kontakt mit ihm hatte, und obwohl ich nicht zu seinem engen Umfeld gehörte, war er für mich ein Freund. Und obwohl ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe, werde ich ihn vermissen. Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde und trotzdem habe ich nicht erwartet, dass er so schnell kommen musste. Zu lesen, dass er nicht mehr da ist, hat mich sehr getroffen. Und um ehrlich zu sein, habe ich mich gefragt, ob ich überhaupt so sehr davon betroffen sein darf. Ich habe mich gefragt, ob ich das Recht habe zu trauern, wenn ich nicht mal weiss, wie seine Eltern mit Vornamen heissen oder wie viele Haustiere er hatte. Ich habe mich gefragt, ob ich trauern kann, obwohl ich nicht wirklich ein Teil seines Lebens war. Und dann dachte ich mir, es geht nicht darum, wie wichtig ich ihm war oder wie sehr ich Bestandteil seines Lebens war. Es geht darum, dass er ein Teil meines Lebens war. Und auch wenn ich ihn nicht oft gesehen habe oder nicht alles über sein Leben wusste, ich habe ihn gekannt. Ich mochte es, mich mit ihm zu unterhalten. Ich habe es genossen in seiner Gesellschaft zu sein. Ich habe seine liebenswerte Art bewundert und ich habe mich immer gefreut, ihn zu sehen. Er hat einem das Gefühl gegeben, wertvoll zu sein. Er hat einem das Gefühl gegeben, dazu zu gehören und er hat es mit einer Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit gemacht, wie niemand sonst. Ich werde ihn vermissen. Und ich werde an ihn denken. Und wenn ich an ihn denke, werde ich es mit einem Lächeln tun. Und das ist es auch, was ich in Erinnerung behalten werde. Sein Lächeln. Etwas schief, dafür umso breiter. Und seine Begeisterung, die mich immer mitgerissen hat. Ich weiss, ich kann vermutlich die Trauer nicht verstehen, die die Menschen in seinem engsten Umfeld fühlen müssen. Dennoch würde ich lügen, wenn ich sagen würde, sein Tod hat mich nicht berührt. Es würde ihm auch nicht gerecht werden. Was ich damit sagen will, ist, dass ich ihn als Mensch unglaublich geschätzt habe und dass ich mir wünschte, sein Leben wäre noch nicht zu Ende. Für Ihn. Für seine Familie. Für seine Freunde. Und auch ein bisschen für mich, weil ich ihn am liebsten noch länger in meinem Leben gehabt hätte. Auf der anderen Seite, bin ich froh, dass er loslassen konnte. Und ich stelle mir vor, dass er jetzt endlich aufatmen und ausruhen kann. Dass es ihm, wo auch immer er sein mag, besser geht. Der Tod ist ein Teil des Lebens und vermutlich ist er deswegen für die Lebenden auch so unerträglich. Für die Sterbenden kann es eine Erlösung sein. Ein letzter Weg, um die Ruhe zu finden, die man verdient hat. Der Tod zwingt uns innezuhalten und zu realisieren, dass wir immer noch menschlich sind. Der Tod erinnert uns daran, wie wertvoll unser Leben ist. Er lehrt uns die Zeit, die uns gegeben wird zu schätzen und die Menschen, die uns begleiten niemals für selbstverständlich zu nehmen. Das Leben ist zerbrechlich. Es ist endlich. Doch was bleibt, ist die Erinnerung. Die Erinnerung an ihn, an seine Wärme und Güte, die mich dazu ermutigt, den Menschen mit Ehrlichkeit, Humor, Offenheit und Freundlichkeit entgegenzutreten, so wie er es mir gegenüber immer getan hat.
In dieser Woche habe ich viel nachgedacht. Und ich weiss, ihr könnt es vermutlich nicht mehr hören, trotzdem: Umarmt eure Eltern, seid nicht nachtragend, nehmt das Telefon ab, wenn euch jemand anruft, schätzt die Menschen, die euch nahestehen - sagt den Menschen, wie sehr ihr sie liebt. Man kann es nicht oft genug sagen. Das Wochenende vor meiner ersten Prüfung kam meine Familie zu Besuch. Und mein Patenonkel mit seiner Familie. Ich habe diese Bande vermisst. Ich habe mich grefreut, Zeit mit ihnen zu verbringen. Gemeinsam mischten wir die Stadt auf und besuchten das Lichterfest. Echt schönes Fest, aber ich habe noch nie so viele Menschen in dieser Stadt gesehen. In manchen Strassen konnte man weder vorwärts noch rückwärts laufen, man war einfach in einem Strom aus Menschen gefangen. Ziemlich unangenehme Erfahrung. Wir haben es geschafft, niemanden aus der Gruppe zu verlieren und genossen die Lichter und Statuen, die die Stadt in diesen Dezembertagen erhellten. Es war schön mit der Familie etwas Zeit zu verbringen und auf andere Gedanken zu kommen. Am Sonntagabend, meine Familie bereits abgereist, packte mich die Panik. Am nächsten Morgen hatte ich Prüfung. In meiner Verzweiflung versuchte ich in den letzten zwei Stunden bevor ich schlafen ging alle Informationen in mein Gehirn zu stopfen in der Illusion, dass das irgendetwas an dem morgigen Resultat ändern würde. Man könnte meinen, nach vier Jahren sollte das kein Problem mehr sein mit den Prüfungen, aber man ist immer noch aufgeregt. Doch auch diese Prüfung ging vorbei und am Abend gönnte ich mir erst mal einen Glühwein vom Weihnachtsmarkt und schaute mir mit einem Freund “Napoleon” im Kino an. Ich weiss nicht, wie wahrheitsgetreu dieser Film das Leben von Napoleon wiedergibt, aber wenn das nur annähernd der Wahrheit entspricht, war Napoleon ein echt merkwürdiger Typ. Ich konnte manchmal fast nicht hinsehen, so komisch hat der sich verhalten. Also ich bin froh, hatte ich nie ein Date mit ihm.
Weiter ging mein Alltag in der Bibliothek, um noch die zwei letzten Prüfungen vorzubereiten. Meine zwei letzten Prüfungen waren am 20. Dezember. Wir alle waren langsam erschöpft von diesem Semester und wir alle konnten es kaum erwarten über Weihnachten nach Hause zu fahren. Am Prüfungstag traf ich mich mit meinen Freundinnen extra etwas früher – man weiss nie, wann die Metro streikt - und dieses Risiko wollten wir nicht eingehen. Um 8:15 waren wir an der Uni. Um 8:15 kamen die ersten Nachrichten im Chat: “Die Metro fährt nicht mehr.” Gott sei Dank sassen wir zu diesem Zeitpunkt schon in der Uni-Cafeteria am Tisch und nicht in der stehengebliebenen Metro. Ein Hoch auf die Schweizer Pünktlichkeit. Während alle gestresst nach einem Weg suchten, um rechtzeitig um 9:00 an der Uni zu sein (die Uber-Preise verdreifachten sich innerhalb von fünf Minuten, die Busse waren übervoll), tranken wir mehr oder weniger entspannt unseren Kaffee in der Cafeteria. Die Verantwortlichen an der Uni merkten irgendwann auch, dass die Metros ausfielen und verschoben die Prüfung um eine halbe Stunde. Immerhin. Um 10:00 strömten die letzten Studierenden komplett gestresst in den Hörsaal und wir brachten auch diese Prüfungen hinter uns. Danach gab es einen Wein zum Feiern und dann wurde gepackt. Endlich ging es für Weihnachten nach Hause. Ich bin so dankbar, dass ich mich so sehr auf zuhause freuen kann. Die Weihnachtstage habe ich entspannt mit meiner Familie verbracht. Das erste Weihnachten seit langem, an dem ich nichts lernen musste. Ich hatte so viel Freizeit, ich hab’s geliebt. Die meiste Zeit habe ich bei meinem Freund verbracht. Hört sich immer noch toll an. Ich habe an Weihnachten seine Familie kennengelernt. Natürlich habe ich mich gefragt, ob es eventuell komisch werden würde aber eigentlich war ich einfach gespannt, seine Familie kennenzulernen. Ich habe mich sehr wohl gefühlt. War ein gutes erstes Treffen. Gott sei Dank. Weihnachten ist auch die einzige Zeit, in der alle vier Geschwister zu Hause wohnen - ein bisschen Kindheit für ein paar Tage. Weihnachten ist toll. Leider war mein Vater an Weihnachten krank, das heisst wir mussten das grosse Weihnachtsfest verschieben. Aber keine Sorge, wir haben schon einen neuen Weihnachtsfeier-Nachholtermin am 2. März. Noch einmal Weihnachten feiern - ich bin dabei! Ich freue mich jetzt schon, alle im März wieder zu sehen.
Heute ist Silvester. Das Jahr 2023 neigt sich dem Ende zu. Um genau zu sein sind es noch zwölf Stunden bevor das neue Jahr eingeläutet wird. Heute Abend wird gefeiert. Und hoffentlich beginne ich das neue Jahr wie alles Gute im Leben. Mit einem Kuss. Wünscht mir Glück…
Alles Liebe
-Kayley