Eintrag 11: Woche 9 (Überraschungsbesuch)
Liebe Alle
Wort der Woche: l’amour, f. - die Liebe - “Die Liebe ist überall.”
Am Sonntag war ich an einem Fussballspiel. Olympique Lyon gegen Clermont. Nummer 17 gegen Nummer 18 der Tabelle. Von achtzehn Mannschaften. Aber die Stimmung war gut. Das spannendste war der Anfang, als sie die Spieler aufzählten. Das war echt eine gute Show. Mit Lichtern, Musik, Maskottchen und allem was dazu gehört. Die Spanier sind natürlich zu spät gekommen, dafür haben sie Snacks mitgebracht. Sonnenblumenkerne. Sonnenblumenkerne, die man noch aus der Schale schälen musste. Grosszügig wie sie sind, haben sie mir eine riesige Hand voll Kerne gegeben. Nach der ersten wusste ich aber schon, dass das definitiv nicht mein Lieblingssnack werden wird. Leider hatte ich noch eine Hand voll minus eine Kerne davon in der Hand und war zu höflich sie wieder zurückzugeben. Man musste die ganzen Kerne in den Mund nehmen und mit den Zähnen aufbeissen, damit der eigentliche Kern aus der Schale rauskommt und man den dann essen kann. Die Schale spuckt man wieder aus und schmeisst sie weg. Hallelujah. Das ist koordinativ herausfordernd. Ich war so mit dem Essen beschäftigt, dass ich das erste Tor von Clermont verpasst habe. Ups. Am Ende stand es 1:2 für Clermont. Schade.
Am Montagmorgen war mein erster Praktikumstag! Ich bin auf der Immuno-Allergologie eingeteilt. Mit fünfzehn anderen Studenten. Wir sind doppelt so viele Studenten, wie Ärzte… Die Klinik ist ganz schön, etwas alt aber ganz schön. Die Ärzte, Pflegefachleute und Studenten sind supernett und da ich Erasmus-Studentin bin, haben sie alle keine Erwartungen an mich. Die anderen Studenten haben ihre fixen Schichten und ich bin einfach zusätzlich da. Sozusagen die Kirsche auf der Sahne. Schön anzusehen, aber keiner kann etwas mit ihr anfangen. Dennoch ist es ist sehr spannend zu sehen, wie der Alltag im Krankenhaus in Frankreich so abläuft. Und da ich nicht eingeteilt bin kann ich jeden Tag aussuchen, was ich machen will. Auf der Immuno-Allergologie, wo ich jetzt bin, haben die Studenten ihre eigenen Patienten, machen das Patientengespräch, die körperliche Untersuchung, Biopsien, Blutentnahmen, EKGs usw. Die Pflegefachleute, Assistenzärzte und Ärzte passen auf, dass niemand stirbt. Die ersten zwei Tage war ich in der Sprechstunde und habe realisiert, dass “Immuno-Allergologie” nur ein etwas coolerer Ausdruck für “Dermatologie” ist. Ich habe immer gesagt, dass ich Dermatologie nicht wirklich mag. Ich finde es immer noch nicht wahnsinnig toll aber in diesem Kontext ist es gar nicht so schlecht. Und ich habe in diesen paar Tagen mehr über Dermatologie gelernt als während drei Jahren Studium. Das will was heissen. Ein Patient war noch sehr jung und ist mit seinem Vater gekommen. Der Grund für die Besprechung war die Einstellung eines Medikaments. Der Arzt fragte den Patienten, seit wann er das Medikament nimmt und in welchen Abständen. Stille. Der Arzt schaute den Patienten an. Der Patient schaute zu seinem Vater. Der Vater schaute zum Arzt. Drei grosse Fragezeichen. Wieder Stille. Nach ein paar Sekunden meinte der Vater zum Sohn: “Ich rufe deine Mutter an.” Zwei Sekunden später war die Mutter am Telefon. Wie aus der Pistole geschossen, erklärte sie bis ins kleinste Detail seit wann, in welchen Abständen, mit welcher Dosierung ihr Kind das Medikament genommen hatte, welche Symptome noch da waren und welche nächsten Schritte sie vorschlagen würde. Diese Szene liess mich schmunzeln. Irgendwie sind Väter und Mütter doch überall gleich. Am Nachmittag durfte ich meine erste Biopsie machen und die Wunde zunähen. Es war nur ein Stich, aber es war das erste Mal, dass ich bei einem Patienten nähen durfte. Mittwoch und Donnerstag bin ich wie ein verlorenes Entchen in der Klinik einer anderen Studentin hinterhergelaufen und habe versucht zu verstehen, was genau meine Aufgabe sein wird. Irgendwann habe ich gemerkt, dass sie das gleiche versucht hat. Zwei verlorene Entchen. Wenigstens waren wir gemeinsam verloren. Diese Situation hat mich etwas frustriert, da ich eigentlich wusste, was zu tun war, ich einfach durch die Sprachbarriere komplett unbeholfen war. Ich dachte mir, wäre ich in der Schweiz, wäre das kein Problem. Oder zumindest nicht so ein grosses. Ich fand es auch sehr schade, nicht wirklich mit den Patienten sprechen zu können, weil mir einfach noch die Worte fehlen. So schnell kann ich das leider auch nicht ändern, aber das ist immerhin ein Ansporn, um weiterzumachen. Das wird schon noch werden. Es war schliesslich meine erste Woche. Alles zu seiner Zeit. Um 9:30 hatten wir Unterricht beim Chefarzt höchstpersönlich. Das war sehr interessant.
Am Donnerstagabend hatte ich Yoga. Wir begannen die Stunde mit einer zwanzigminütigen Meditation. Das Thema der Meditation war “Liebe”. Liebe für sich, Liebe für seine Liebsten, Liebe für alle, Liebe für das Universum. Eine kleine Erinnerung daran, dass die Liebe viele Gesichter hat und man sie überall wiederfindet. In sich selbst. In der Umarmung einer geliebten Person. Im Lächeln eines freundlichen Marktstandbesitzers. Im höflichen Nicken eines vorbeilaufenden Passanten... Als nächstes mussten wir quer durch den Raum laufen. Irgendwann meinte unsere Yogalehrerin, wir müssen die Augen schliessen und weiterlaufen. Weiterlaufen und darauf vertrauen, dass wir nicht frontal mit jemandem zusammenstossen. Sehr stressige Übung. Ich habe es aber geschafft, während der ganzen Übung meine Augen nur zweimal ein ganz kleines bisschen aufzumachen, um kurz abzuschätzen, ob ich bald in eine Wand oder einen Menschen reindonnern würde oder ob ich noch auf Kurs war. Wir haben es alle ohne gebrochene Nase überstanden und zum Abschluss gab es noch einmal eine Meditation. Wir sassen alle im Kreis und gaben uns die Hände. Als Zeichen unserer Verbundenheit. Wir alle kannten uns nicht, wir waren nur per Zufall in der gleichen Yogastunde. Wir hatten keine Ahnung, was die andere Person durchmachte. Woher wir alle kamen, womit wir unsere Zeit normalerweise vertrieben. Aber für diese neunzig Minuten waren wir gemeinsam in diesem Raum und teilten diese Erfahrung. Wir konnten einfach sein, ohne Wertung ohne Vergleich. Zusammen. Für einen kleinen Moment, waren wir alle verbunden. Und dann, war der Moment vorbei. Jede ging wieder ihren Weg und lebte ihr Leben weiter. Mit einem klein bisschen mehr Liebe im Herzen.
Am Freitagmorgen hatte ich meinen ersten eigenen Patienten! Ich stellte mich dem Patienten vor und liess ihn wissen, dass ich Französisch nicht ganz so perfekt beherrsche, ich aber zuversichtlich war, dass wir das gemeinsam hinkriegen würden. Er war unglaublich nett und hat mir alles sehr langsam und geduldig erklärt. Er erzählte mir von seinen Enkelkindern, seinen Hobbies. Die meisten Fragen habe ich einfach dreimal gestellt. Und er hat sie mir dreimal beantwortet. Nach dem dritten Mal habe ich dann auch 90% des Inhaltes verstanden. Um mir zu helfen, hat mein Patient auch alle Register gezogen und sogar den Arztbericht seines letzten Spitalaufenthaltes rausgesucht. Nur leider war dieser Bericht von 2011. Und von Hand geschrieben. Ich habe die Linien auf dem Blatt angeschaut. Dann habe ich meinen Patienten angeschaut. Dann wieder das Blatt. Dann wieder meinen Patienten. Fragezeichen. “Sie können es auch nicht lesen, oder?”, fragte er. “Nein, nicht ein Wort.” Wir haben beide gelacht, er hat das Blatt wieder eingepackt und mir die Geschichte so gut es ging noch einmal erzählt. Er war sehr motiviert, mir alles zu erklären und dieses Erstgespräch war wirklich ein Gemeinschaftsprojekt. Ich bedankte mich bei ihm für seine Geduld und seinen Elan und präsentierte es der Assistenzärztin. Sie war genauso geduldig wie mein Patient und hat vermutlich nur die Hälfte von dem verstanden, was ich ihr gesagt habe. Ich war trotzdem sehr stolz auf meinen ersten Versuch. Und ich war froh, mich schon weniger hilflos zu fühlen. Übung macht den Meister, oder so.
Am Freitagabend feierten wir den Geburtstag meiner Mitbewohnerin. 30 Jahre! Wir feierten in einer Tanzbar und es hat richtig Spass gemacht. Es gab einen DJ, gute Musik, einen Tanzlehrer, der uns Tanzschritte beibrachte. Alle waren gut drauf und alle haben getanzt. Es war super. Am Samstag war ich zu einer Halloween-Sorée eingeladen. Dieses Mal ist nichts verbrannt. Nach dem Essen gingen wir noch in einen Club. Ich war das erste Mal in einem Technoclub. Die Musik war genau so langweilig wie ich es mir vorgestellt habe. Aber die Gesellschaft war gut. Es hat Spass gemacht, mal wieder bis 5:00 zu tanzen. Und da Zeitverschiebung war, war ich eigentlich nur bis 4:00 unterwegs. Also gar nicht so lange. Bevor wir nach Hause fuhren, gab es noch eine grosse Portion Pommes für alle. Das ist einfach der beste Part, wenn man nachts unterwegs ist: Das Essen auf dem Heimweg.
Am Sonntagmorgen waren wir alle noch etwas langsam unterwegs. Ich ging in die Küche, um mir mein Essen vorzubereiten, da piepste der Ofen. Ich schaute durch die Ofentür. Da war ein Kürbis. Ich klopfte an die Zimmertür meiner Mitbewohnerin und informierte sie, dass der Kürbis fertig war. Als sie nicht reagierte, sagte ich es ihr noch einmal. Endlich kam sie aus dem Zimmer. Sie schaute in den Ofen, sagte, “Ja, sieht gut aus, du kannst in rausnehmen”, und lief wieder davon. “Willst du ihn nicht rausnehmen?”, fragte ich. “Nein, das ist nicht meiner”, antwortete sie. Sie schaute mich an. Ich schaute sie an. “Meiner auch nicht.” “Hm, okay dann gehört er der anderen Mitbewohnerin”, dachten wir. Aber die war gar nicht da. Wir nahmen den Kürbis aus dem Ofen und gaben ihr Bescheid, dass ihr Kürbis es heil aus dem Ofen geschafft hat. Ich dachte mir nur: Diese Frau hat grosses Vertrauen in uns. Sie hat, ohne uns Bescheid zu geben, den Kürbis in den Ofen geschoben. Und angenommen, dass unsere übernächtigten, verkaterten Gehirne A. das Piepen hören und B. schnallen, dass da was im Ofen ist, das raus muss. Hat schlussendlich auch funktioniert. Hallelujah!
Ich habe vor ein paar Wochen gesagt, dass ich versuche, mehr auf mein Bauchgefühl zu hören und weniger nachzudenken. In Frankreich ist der 1. November ein Feiertag, also keine Arbeit für mich. Am 31. Oktober war dein Geburtstag. Also dachte ich in einem Moment, es wäre schön, dich für deinen Geburtstag zu überraschen und im nächsten Moment waren die Tickets gekauft. Schon nahm ich den Zug nach Basel, um zu dir zu fahren. Ist das eine gute Idee? Ich weiss es nicht. Wirst du dich freuen? Ich hoffe es. Werde ich mich freuen? Auf jeden Fall. Manchmal muss man weniger denken und einfach machen. Mein Bruder sagt immer: “Lass los.” Also liess ich los. Natürlich musste ich mir von meinen Geschwistern anhören, dass ich nicht zu ihren Geburtstagen gekommen bin aber zu deinem schon. War auch zu erwarten. Das werde ich jetzt noch eine Weile zu hören bekommen. Ich nahm den Bus zu dir nach Hause. Ein komisches Gefühl nach Hause zu kommen, aber nur, um für einen kurzen Besuch zu bleiben. Ich habe die Schweiz vermisst. Schön wieder hier zu sein. Ich stieg aus dem Bus und lief zu deinem Haus. Langsam war ich nervös. Langsam kamen die Zweifel. “Lass los!”, dachte ich mir. Meine Hände umklammerten den Geburtstagskaktus, den ich für dich gekauft habe und ich lief weiter. Ich blieb vor deiner Tür stehen. Voller Vorfreude drückte ich auf die Klingel. Das Licht hinter der Tür ging an. Schritte. Die Tür öffnete sich…
Alles Liebe
-Kayley