Eintrag 34: Woche 42 (Neue Erkenntnisse und eine Schaufensterpuppe)

Liebe Alle

Wort der Woche: le mannequin de vitrine – die Schaufensterpuppe - “Wenn die Schaufensterpuppe am nächsten Morgen keine Beine mehr hat, weisst du, dass du zu wild gefeiert hast.”

Am Montag begann mein Praktikum auf dem Notfall. Meine letzten drei Wochen. Ich fand mich um 8:00 im Sitzungsraum ein für die Übergabe. Ich hatte Glück mit meiner Mitstudentin für den Tag. Sie hat mir alles gezeigt und auch die anderen im Team waren sehr nett. Ein guter Start. Am Mittwoch war es noch besser, die Mitstudentin und die Assistenzärztin waren super. Ich habe mich richtig wohl gefühlt. Warum ich das so betone? In meiner Position als “Erasmus”, steht und fällt der Tag mit den Studentinnen (“Externes”), die mit mir eingeteilt sind. Am Donnerstag hatte ich weniger Glück mit meinen Mitstudentinnen. Ich war auf einer neuen Station, also musste ich mich erst wieder ein bisschen zurechtfinden. Nur leider waren die beiden nicht sehr motiviert mit mir zusammenzuarbeiten. Es war sehr unangenehm. Als dann eine Assistenzärztin vorbeikam und meinte, auf der anderen Station ist “die Erasmus” allein, eine von uns solle ihr doch helfen, wusste ich das ist meine Chance, um abzuhauen. “Ich kann das gerne machen.” Ich dachte, sie würden sich freuen, wenn ich freiwillig zur anderen, “langweiligeren” Station wechselte. Nur leider war eine der beiden Studentinnen nicht meiner Meinung. “Sie haben schon eine “Erasmus””, es ist besser, wenn eine von uns geht.”, erwiderte sie und deutete auf die andere Studentin, die mit uns eingeteilt war. “Nein wirklich kein Problem, ich kann das machen.”, gab ich zurück. “Du verstehst nicht, sie haben schon eine “Erasmus”, sie brauchen eine richtige Studentin.”, antwortete sie. “Ich bin doch eine richtige Studentin.” Kurze Pause. “Komm sag es”, dachte ich mir. Diese Diskussion war so unnötig. “Nein, eine “französische Studentin”.” Ahh, da war es. Jetzt hat sie es ausgesprochen. Ich antwortete, dass ich genauso gut gehen kann, sie liess sich aber nicht überzeugen und meinte nur, sie würde mal nachfragen, ob sie auch mit einer “Erasmus” zufrieden wären. Ein Teil von mir war genervt von ihrer Aussage, gleichzeitig war es auch verletzend. Ich war es langsam gewohnt nicht ernst genommen zu werden, aber so explizit hat es mir noch nie jemand gesagt. Zwei Minuten später kam sie zurück und sagte: “Sie brauchen niemanden, alles gut.” Das gab mir ein kleines bisschen Genugtuung. Ahha, die “Erasmus” auf der anderen Station kann das anscheinend doch ganz gut allein. Wie sich später herausstellte, haben sie gar nie nach Hilfe gefragt, die andere Assistenzärztin hat es einfach von sich aus angenommen. Ich hätte trotzdem viel lieber mit meiner Erasmus-Freundin zusammengearbeitet als mit diesen zwei charmanten, “französischen Studentinnen”, wie sie sich selbst nannten. Schade. Als wir ungefähr zwei Stunden auf unseren Stühlen sassen und nichts zu tun hatten, meinte ich zu den beiden, dass ich noch einmal nachfragen würde, ob sie auf der anderen Station Hilfe bräuchten und lief davon. Endlich frei. Ich trat bei der anderen Station ins Büro und zufälligerweise brauchten sie gerade in diesem Moment meine Hilfe. Ein gutes Gefühl. Ich konnte bleiben. Der Tag schien sich zum Guten zu wenden. Ich entschied mich, nicht mehr zu den anderen zurückzukehren. Manchmal muss man seinem Glück etwas nachhelfen. Wir gingen zu zweit Mittagessen und diskutierten über unsere Erfahrungen vom Morgen, beziehungsweise unsere Erfahrungen allgemein als “Erasmus-Studentinnen” im Krankenhaus. Hat gut getan mit jemandem zu reden, der es genau gleich erging. Den restlichen Tag arbeiteten wir auf derselben Station und die Zeit verging wie im Flug.  Nach Ende unserer Schicht gingen wir entspannt in einer Bar Abendessen. Ein ereignisreicher Tag mit einem wundervollen Abschluss, der mich einiges gelehrt hat:

  1. Es gibt Menschen, die sind einfach unfreundlich ohne Grund (Ich habe zuerst “scheisse” geschrieben, aber “scheisse” ist ein sehr starkes Wort, also versuchte ich mich diplomatischer auszudrücken).

  2. Wenn Menschen unfreundlich sind (seht ihr, diplomatisch) ohne Grund, dann ist das ihre Inkompetenz, nicht deine. Aufregen darf man sich aber trotzdem. Finde ich. (Da spricht vielleicht auch meine fehlende Weisheit aus mir, würde mein Vater jetzt sagen).

  3. Du kannst selbst bestimmen, wie du mit dieser Situation umgehen willst. (Nachdem du dich aufgeregt hast).

  4. Sich vom Übel zu entfernen, erweist sich als gute Strategie.

  5. Ein Tag der scheisse (nicht so toll) gestartet ist, kann sich noch zum Guten wenden und wundervoll enden.

  6. Sei nett und traue deinen Mitmenschen etwas zu. Es fühlt sich nicht toll an, wenn alle glauben, man kann nichts. Und vielleicht wird man am Ende sogar überrascht.

  7. Wenn dir jemand etwas zutraut, nimm diese Chance und wachse daran. 

  8. Wenn mehr als nur eine Studentin mit dir in einem Raum sind, dann beziehe alle in das Gespräch ein und ignoriere nicht einfach eine Person, ohne sie einmal anzuschauen. Das ist gemein (wieder diplomatisch ausgedrückt).

  9. Lernen funktioniert so viel einfacher in einer sicheren, positiven Umgebung. Versuche für dich und für andere ein Umfeld zu schaffen, das einen weiterbringt, nicht runterzieht.

  10. Vertraue auf dein Können und überzeuge andere davon.

Ich weiss ich habe das Rad nicht neu erfunden. Aber manchmal tut es gut, sich gewisse Dinge noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Am Freitag bin ich mit meiner Freundin und ihren Mitbewohnenden fürs Wochenende weggefahren. Nach Ardèche. Ein bisschen Süden. Wir hatten zu elft ein Haus gemietet mit Pool und Garten. Ein Traum. Ich kannte von diesen elf gerade mal drei Menschen, also war der erste Tag ein kleiner Kulturschock. Ich habe mich aber schnell erholt und das Wochenende konnte kommen. Wir waren zwei Nicht-Französinnen und neun Franzosen/Französinnen. Sprache des Wochenendes: Französisch. Ich glaube ich habe in diesen ganzen zehn Monaten weniger Französisch gesprochen als an diesem Wochenende. War eine gute Übung. Mein Gehirn ist immer noch müde davon. Es braucht schon extrem viel mehr Konzentration in einer Fremdsprache zu leben. Vor allem, wenn man die Fremdsprache noch nicht perfekt beherrscht. Es waren aber alle supernett und haben mich in ihren Kreis aufgenommen, erklärt, wiederholt, verlangsamt. Damit ich auch mitgekommen bin. Mein Endgegner? Laute Musik und Trinkspiele, bei denen man mitdenken musste. Auf Französisch. Mein Gehirn war nach einem langen Tag in der Sonne sowieso schon gebraten, garniert mit ein, zwei Aperolen (Apérols? Apérölen? Okay nein, é und ö in einem Wort geht glaube ich nicht. Obwohl, gefällt mir. Eine Vereinigung zwischen Deutsch und Französisch…) Egal, ich versuch’s noch einmal: Mein Gehirn war nach einem langen Tag in der Sonne sowieso schon gebraten, garniert mit ein, zwei Apérölen zu viel und zwei, drei Stunden Schlaf zu wenig die Nacht davor. Ein Rezept für Überforderung. Ich habe es mit viel Anstrengung und Mühe dennoch ganz gut gemeistert und musste nur ein einziges Mal zur Strafe trinken. Meinen Fehler bemerkte ich aber erst, nachdem die ganze Runde angefangen hatte zu lachen. Über mich, wie sich dann herausstellte. Habe ich dann auch gecheckt. Sie haben aber sehr nett gelacht. So ein "Wir-lachen-mit-dir-nicht-über-dich”-Lachen. Scheint so, als würde ich immer noch vieles nicht verstehen. Nicht einmal, wenn ich es selbst ausspreche. Das hat mich wieder einmal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Aber um es noch einmal zu wiederholen: ich musste nur einmal zur Strafe trinken. Alles in allem ein Erfolg. Ich kann mich auch gar nicht erinnern, wann ich davor das letzte Mal ein Trinkspiel gespielt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich glaube ich beginne noch einmal von vorne: am Freitagabend sind wir erst um 22:00 angekommen, folglich gab es auch erst um 00:00 Abendessen. Danach wurde gefeiert, was das Zeug hielt - bis um vier Uhr früh. Immer dabei, eine Schaufensterpuppe mit Rollerhelm, violetter Perücke, Federboa und Plastikbrille. Die Schaufensterpuppe hat im Verlauf des Abends mehrmals ihren Standort gewechselt, ihre Brille verloren, ihren Helm… Sie wurde überall hin mitgenommen, um Teil unserer Gruppe zu sein. Zwischenzeitlich wurde sie in die Badewanne gelegt, um die zu erschrecken, die auf Toilette mussten. Glaubt mir, wenn ihr "pompette” (jetzt sehen wir, ob ihr letzte Woche aufgepasst habt) in einen halbdunklen Raum läuft und da liegt jemand in der Badewanne - da macht das Herz einen Satz, ganz automatisch. Um zwei Uhr früh, vier Stunden nach meiner üblichen Schlafenszeit, war ich dann so müde, dass ich mich verabschiedete und mich zwei Stunden vor allen anderen auf den Weg ins Bett machte. Schlafen konnte ich trotzdem erst, als die anderen auch im Bett waren. Zum Glück lag ich schon zwei Stunden früher im Bett… Am nächsten Morgen wurde ich um 08:30 wach. Das Haus war angenehm still. Ich machte mich durch das Wohnzimmer auf den Weg zur Küche. Im Wohnzimmer traf ich auf die Überbleibsel von letzter Nacht. Leere Flaschen, ein Blumentopf in Scherben auf dem Boden, die Pflanze kläglich daneben. In der Küche standen die Überreste des Essens. Ich ging erst mal duschen. Danach öffnete ich die Terassentür und trat in den Garten. Es hatte geregnet. Neben dem Grill standen immer noch die Zucchetti vom Vorabend, ungekocht, eingetaucht in 2cm Regenwasser. Ich lief über den nassen Rasen, um die Zucchetti einzusammeln und leerte das überschüssige Wasser ins Waschbecken. “Die kann man schon noch essen”, dachte ich und legte sie in den Kühlschrank. Es war immer noch ruhig. Ich machte mir einen Schwarztee mit Milch und setzte mich nach draussen. Die Vögel zwitscherten. Die Zeit schien wie verlangsamt. Ich liebe dieses Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Einfach zu sitzen. Den Moment zu geniessen. Ich schloss meine Augen und genoss die ersten Sonnenstrahlen auf meiner Haut, die sich durch die Wolken kämpften. Einfach sein. Nach zwei Stunden waren die Ersten endlich wach und gesellten sich zu mir. Wir machten uns Frühstück und entschieden uns, auf einem Bauernhof einkaufen zu gehen. Frisches Gemüse, frisches Obst. Ultraleckere Pflaumen. Mhh. Danach teilten wir uns auf, um die restlichen Einkäufe zu tätigen. Meine Aufgabe war es, Kaffee auszusuchen, was zu einer Herausforderung wurde, weil ich nicht wusste welche Kaffeemaschine wir hatten. Ich entschied mich schliesslich für Pulverkaffee, weil man dafür keine Kaffeemaschine brauchte. Fuchs, sag ich da nur. Natürlich kauften wir auch einen neuen Pflanzentopf, damit die arme Pflanze wieder einen Ort zum Wohnen hatte. Als wir wieder beim Haus ankamen, waren die anderen auch alle aufgewacht und wir genossen den frühen Nachmittag am Pool. Ganz entspannt. Danach machten wir uns auf zum Fluss, um ein paar Stündchen an einem kleinen Strand zu verweilen und die Natur zu geniessen. Wir spielten einige Runden "Pétanque” (“Boccia”). Nachdem ich jeden Montag die alten Leute in meinem Quartier dabei beobachtet hatte, war ich schon fast Profi in diesem Spiel. Jedenfalls sagten mir alle, wie gut ich war. Vermutlich waren sie nur höflich. Oder ich habe es nicht richtig verstanden. Oder ich war wirklich gut. Dürft euch eine Version aussuchen. Am Abend wiederholten wir das Programm vom Vorabend: BBQ und Feiern. Diesmal war jedoch schon um 01:00 Schluss. Zum Glück. Wieder war ich die erste im Bett. Ich fühlte mich wie eine Grossmutter. Aber mal ehrlich: Mein Schlaf hat für mich sehr, sehr hohe Priorität. Fast so hohe wie Essen. 

Am nächsten Morgen war ich wieder die Erste und wurde draussen von den abgetrennten Beinen der Schaufensterpuppe begrüsst. Das war ein groteskes Bild. Halbleere Gläser. Die Kaffeetassen und das Geschirr vom Dessert noch auf dem Tisch. Die Stühle kreuz und quer um den Tisch verteilt. Und auf einem der Stühle: Die Beine. Ich setzte mich mit einer Tasse Schwarztee mit Milch neben die Beine, hörte meinen Podcast und genoss die ruhigen Morgenstunden. Nachdem ich den Podcast zu Ende gehört hatte, fing ich an das Chaos vom Vorabend zu beseitigen und machte das Frühstück bereit. Da kamen auch schon die ersten aus ihren Verstecken hervor. Nach dem Frühstück entspannten wir im Garten. Auf der Heimfahrt machten wir einen kleinen Zwischenstopp in einem Dörfchen für ein leckeres Mittagessen und fuhren zufrieden und gestärkt zurück nach Lyon. Ich habe das Wochenende sehr genossen. Das schöne Wetter, die freundlichen Menschen. Dennoch war ich froh, nach zwei Tagen umgeben von zehn Menschen am Sonntagabend nach Hause zu kommen und ein paar Stunden allein zu sein. Um 22:00 ins Bett zu gehen. Mit meinem Freund zu telefonieren, der Schweizerdeutsch versteht.  Und eine lange Nacht Schlaf vor mir zu haben… Gute Nacht. 

Alles Liebe

-Kayley

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